Europa im Überblick, 12/2021

EiÜ 12/2021

Rechtsstaatlichkeit: EuGH soll klare Verhältnisse schaffen – KOM

Die EU-Kommission hat am 31. März 2021 ein neuerliches Verfahren gegen Polen vor dem EuGH in der Rechtssache C-204/21 eingeleitet, um gegen das polnische Justizgesetz vom 20. Dezember 2019, das am 14. Februar 2020 in Kraft trat, vorzugehen. Die Kommission ersucht den EuGH darüber hinaus einstweilige Maßnahmen bis zur Verkündung des rechtskräftigen Urteils anzuordnen. Ein weiterer Beschwerdepunkt laut Kommission ist die Arbeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – deren Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist. In zwei weiteren Verfahren klagen Polen C-157/21 und Ungarn C-156/21 vor dem EuGH gegen Verordnung 2020/2092 über eine allgemeine Konditio­na­li­täts­re­gelung zum Schutz des EU-Haushalts, sog. Rechtsstaatlichkeitsmechanismus (vgl. EiÜ 10/21). Das EU-Parlament reagierte auf die Klagen der beiden Mitgliedsstaaten und hat eine Entschließung mit großer Mehrheit angenommen. Hauptforderung lautet: der seit dem 1. Januar 2021 geltende Rechtsstaatlichkeitsmechanismus müsse durchgesetzt werden. Die Klagen Ungarns und Polens vor dem EuGH hätten keine aufschiebende Wirkung, sodass die Kommission ihren Verpflichtungen aus der Verordnung Nr. 2020/2092 nachkommen müsse. Auch die in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 11. Dezember 2020 angekündigten Leitlinien der Kommission (Punkt c) sowie die Absprache keine Maßnahmen vor der Erstellung dieser Leitlinien zu ergreifen, haben keine rechtliche Wirkung.

Die Unschuldsvermutung im Strafprozess in Gefahr? – FRA/KOM

Die EU-Kommission macht in ihrem Bericht vom 31. März 2021 zur Umsetzung der Richtlinie 2016/343/EU zur Unschuldsvermutung auf die teilweise noch unzureichend gewährleistete Garantie der Unschuldsvermutung aufmerksam (vgl. EiÜ 6/16, 36/15). Gegen vier Mitgliedsstaaten führt die EU-Kommission bereits Vertragsverletzungsverfahren wegen nicht rechtzeitiger oder unzureichender Umsetzung der Richtlinie. Drei weitere Verfahren wurden dieses Jahr neu eröffnet. Die Grundlage für diese Einschätzung bildet unter anderem ein am selben Tag veröffentlichter Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), der auf Interviews mit über 120 Strafverteidigern, Richtern, Staatsanwälten, Polizeibeamten und Journalisten beruht. Der Bericht hat das Ziel einer praxisorientierten Evaluierung der Umsetzung der Richtlinie in ausgewählten Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland. Konkret wird die mediale Berichterstattung in Bezug auf den Angeklagten als zu einseitig kritisiert, was zu einer Beeinflussung der Richter und der Öffentlichkeit beitragen könnte. Auch die Vorführung des Angeklagten im Gerichtssaal in Handschellen und/oder eine isolierte Platzierung abseits seines Verteidigers suggerieren oft dessen Schuld, obwohl diese noch nicht rechtskräftig festgestellt wurde.

Update zur Europäischen Staatsanwaltschaft – EuStA

In einem Brief an die EU-Kommission hat die EU-Generalstaatsanwältin Laura Kövesi angekündigt, zum 1. Juni 2021 offiziell ihre Arbeit aufnehmen zu können. In einer Pressemitteilung teilt die Europäische Staatsanwaltschaft mit, dass mittlerweile ein voll funktionsfähiges Fallbearbeitungssystem zur Verfügung steht und auch entsprechende Vereinbarungen mit anderen Institutionen wie z.B. Eurojust, Europol und dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) vorliegen bzw. kurz vor dem Abschluss stehen. In der Vergangenheit wurde der offizielle Starttermin bereits mehrfach verschoben. Zuletzt war der 1. März 2021 im Gespräch, was aber aufgrund der zu niedrigen Anzahl Europäischer Delegierter Staatsanwälte nicht realisiert werden konnte (vgl. EiÜ 10/21, 3/21).

Evaluierung der Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung – KOM

Die EU-Kommission ruft Behörden, Zivilgesellschaft und interessierte Bürgerinnen und Bürger auf, sich an einer öffentlichen Konsultation zur Evaluierung der EU-Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung, insbesondere der Richtlinie 2017/541/EU, zu beteiligen. Es geht einerseits darum, die Wirksamkeit und Relevanz der Vorschriften zu bewerten und anderseits sollen die Auswirkungen der Richtlinie auf Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und das Niveau des Schutzes und der Unterstützung von Terrorismusopfern beurteilt werden. Die Richtlinie beinhaltet harmonisierte Vorschriften für die Definition von Straftatbeständen und Sanktionen in Bezug auf terroristische oder damit in Zusammenhang stehende Straftaten. Darüber hinaus regelt die Richtlinie auch Maßnahmen zum Schutz, zur Unterstützung und zur Hilfe für Opfer des Terrorismus. Im Dezember 2020 hat die EU-Kommission mit der Veröffentlichung der EU-Agenda zur Terrorismusbekämpfung bekräftigt, dass die Terrorismusbekämpfung eine hohe Priorität darstellt. Eine Beteiligung an der öffentlichen Konsultation ist noch bis zum 16. Juni 2021 möglich. Bis zum 8. September 2021 soll dem EU-Parlament und Rat ein Bericht vorgelegt werden. Auf Grundlage dieser Bewertung wird die Kommission gegebenenfalls über Folgemaßnahmen entscheiden.

Bremst Deutschland das Wiederaufbauprogramm der EU? – BVerfG

Das deutsche Zustimmungsgesetz zum zeitlich befristeten Aufbau-Instrument „Next Generation EU“ darf vorerst nicht durch den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier ausgefertigt werden. Das geht aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 26. März 2021 (Az.: 2 BvR 547/21) hervor. Mit dieser Entscheidung schafft das BVerfG einen vorläufigen Zustand im Rahmen des anhängigen Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (sog. Hängebeschluss). Darin wird es um die rechtliche Überprüfung des Eigenmittelbeschlusses des Rates gehen, auf dessen Grundlage die EU ihr befristetes Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU Recovery Plan“ mit einer Summe von 750 Milliarden Euro zur Unterstützung der Wirtschaft nach der COVID-19-Pandemie stützen will. Insgesamt stehen für die Erholung Europas nach der COVID-19 Pandemie 1,8 Billionen Euro bereit. Die EU soll insbesondere auch in die Lage versetzt werden, für einen bestimmten Zeitraum Schulden aufzunehmen. Damit die Kommission im Rahmen von Next Generation EU Mittel aufnehmen und damit das Instrument anwenden kann, muss der neue Eigenmittelbeschluss noch von allen Mitgliedsstaaten im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert werden. Die EU-Kommission bleibt trotz des nun anhängigen Verfahrens vor dem BVerfG zuversichtlich, den Ratifizierungsprozess bis zum Ende des zweiten Quartals 2021 wie geplant abschließen zu können. Dagegen fordern einige EU-Abgeordnete die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des PSPP-Urteils des BVerfG vom Mai 2020 (vgl. EiÜ 19/20).

Bessere Durchsetzung der Datenschutzgrundverordnung – EP

Die Datenschutzgrundverordnung (EU) Nr. 2016/679 ist nun seit fast drei Jahren in Geltung. Mit der Entschließung vom 25. März 2021 kommt das EU-Parlament zum Ergebnis, dass die Bestimmungen der DSGVO insgesamt positiv zu bewerten sind und einen Erfolg für Europa darstellen. Gleichsam teilen sowohl das EU-Parlament als auch die EU-Kommission die Auffassung, dass es keiner Überarbeitung zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedarf. Insbesondre hebt das EU-Parlament hervor, dass mit der DSGVO weltweit Bestimmungen für den Schutz personenbezogener Daten geschaffen wurden. Die Forderung nach einer effektiveren Durchsetzung bei Ansprüchen von Betroffenen sowie ausreichende personelle, technische wie finanzielle Ressourcen für Aufsichtsbehörden zeigen jedoch auch Verbesserungsbedarf auf. Dies gelte umso mehr bei der Nutzung digitaler Plattformen und anderer digitaler Dienste, vor allem in den Bereichen Internetwerbung, Microtargeting, Profiling durch Algorithmen, Ranking und Verbreitung und dem Hervorheben von Inhalten. Angesichts der besonderen Herausforderungen, mit denen insbesondere kleine und mittlere Unternehmen bei der Anwendung der DSGVO konfrontiert sind, plädieren die Abgeordneten für mehr Unterstützung, Informationen und Schulungen durch nationale Behörden, Kommission und den Europäischen Datenschutzausschuss.

Pilotenstreik ist kein „außergewöhnlicher Umstand“ für Airlines – EuGH

Der EuGH hat am 23. März 2021 in der Rechtssache C-28/20 entschieden, dass Fluglinien zur Entschädigungszahlung auch dann verpflichtet sind, wenn ein Flug wegen eines Streiks ausfällt. Ein Arbeitskampf sei Teil der normalen Tätigkeit eines Unternehmens und somit keine höhere Gewalt. Folglich sei ein Pilotenstreik, der zu einer Flugannullierung führt, kein „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne der Fluggastrechteverordnung (EG) Nr. 261/2004. Im Falle eines außergewöhnlichen Umstands müssen die Luftfahrtunternehmen keine Ausgleichszahlungen leisten. Im konkreten Fall wurde ein Flug kurzfristig, aufgrund eines Streiks der Piloten in Norwegen, Schweden und Dänemark im April 2019, annulliert. Der EuGH präzisiert, dass für die Berufung auf einen „außergewöhnlichen Umstand“ zwei Bedingungen erfüllt sein müssen. Erstens dürfen die Vorkommnisse nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sein. Zweitens dürfen sie vom Luftfahrtunternehmen nicht tatsächlich beherrschbar sein. Ein Pilotenstreik für bessere Arbeitsbedingungen sei, so der EuGH, Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Arbeitgebers. Zudem hätte sich die Airline auf den Streik vorbereiten und dessen Folgen gegebenenfalls abfangen können. Folglich liege kein „außergewöhnlicher Umstand“ vor. Der EuGH wies aber zugleich darauf hin, dass der Fall anders zu entscheiden wäre, wenn eine externe Ursache vorliegt, also beispielsweise ein Streik der Fluglotsen oder des Flughafenpersonals. Oder aber, wenn einem Streik Forderungen zugrunde liegen, die nur von staatlichen Stellen erfüllt werden können. Dann seien die Vorkommnisse für das betroffene Luftfahrtunternehmen nicht beherrschbar.

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