EiÜ 17/2021
Digitales Zeitalter in Europa schreitet voran – EP/KOM
Am 10. Mai 2021 fand im EU-Parlament eine Aussprache des Rechtsausschusses (JURI) mit der Exekutiv-Vizepräsidentin der EU-Kommission Margrethe Vestager zum Thema „Europa für das digitale Zeitalter“ statt. Im Mittelpunkt standen der Verordnungsvorschlag (in Englisch) der EU-Kommission zur Regulierung von künstlicher Intelligenz (KI) (vgl. EiÜ 14/21) sowie der Digital Markets Act und der Digital Services Act. Zu letzterem fordert der Ausschuss die Unterstützung von KMU insbesondere bei teuren und aufwendigen Compliance-Pflichten, die durch den Digital Services Act etabliert werden sollen (vgl. EiÜ 1/21). Bezüglich des KI-Vorschlags erläuterte Vestager, dass das Vertrauen der Bürger in KI-Systeme, die Rechtssicherheit und die Wahrung der Grundrechte für die EU-Kommission oberste Priorität haben. Innerhalb des Rechtsausschusses wurden insbesondere Bedenken bezüglich der biometrischen Gesichtserkennung zum Zwecke der Strafverfolgung geäußert. Auf Nachfrage kündigte Vestager zudem einen Rechtsakt zur Haftung im Umgang mit KI Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres an. Im Anschluss verwies Vera Jourová, Vize-Präsidentin der EU-Kommission für Werte und Transparenz, u.a. auf die laufenden Arbeiten der EU-Kommission entsprechend der im Dezember 2020 vorgelegten Mitteilung zur Digitalisierung der Justiz. Sie nannte die Initiative der EU-Kommission zur Digitalisierung der grenzüberschreitenden justiziellen Zusammenarbeit, die Einführung eines ethischen Gremiums zur Stärkung gemeinsamer ethischer Grundsätze zwischen den Institutionen und eine Initiative zum Schutz von Journalisten und Rechtsaktivisten vor sog. strategischen Klagen gegen öffentliche Beteiligung (sog. SLAPP-Klagen).
Keine Festnahme aufgrund Interpol-Anordnung bei ne bis in idem – EuGH
Der EuGH entschied in einem Urteil vom 12. Mai 2021 in Rs. C-505/19, dass eine Person, die aufgrund einer sog. Red Notice von Interpol gesucht wird, in der EU und im Schengen-Raum dann nicht festgenommen werden darf, wenn diese Person in einem dieser Mitgliedstaaten wegen derselben Tat bereits rechtskräftig verurteilt worden ist. Im vorliegenden Fall ging es um einen deutschen Staatsangehörigen, gegen den eine Red Notice auf Grundlage eines Haftbefehls in den USA ausgestellt wurde. Da wegen der zugrundeliegenden Tat jedoch bereits ein Verfahren in Deutschland eingeleitet und gemäß § 153a Abs. 1 StPO durch Auflage eingestellt worden war, verlangte der Betroffene unter Berufung auf das Verbot der Doppelbestrafung nach Art. 50 GRCh die Löschung der Red Notice vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden. Der EuGH urteilte im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens, dass insbesondere das gegenseitige Vertrauen der Schengen-Staaten und das Freizügigkeitsrecht des Betroffenen gemäß Art. 21 AEUV einer vorläufigen Festnahme dann entgegenstehen, wenn eine rechtskräftige Aburteilung wegen derselben Tat, die auch Gegenstand der Red Notice ist, bereits erfolgt ist. Dies gilt auch dann, wenn wie im vorliegenden Fall das Verfahren nach Zahlung eines Geldbetrags gemäß § 153a Abs. 1 StPO eingestellt wurde. Der EuGH folgt damit den Schlussanträgen von Generalanwalt Bobek vom 19. November 2020 (vgl. EiÜ 39/20).
Kein abgeleiteter Flüchtlingsstatus für minderjähriges Kind – EuGH
Generalanwalt de la Tour stellt in seinen Schlussanträgen vom 12. Mai 2021 in der Rs. C-91/20 fest, dass keine Notwendigkeit besteht, dem minderjährigen Kind eines anerkannten Flüchtlings ebenfalls diesen Status und damit automatisch internationalen Schutz zu gewähren, ohne dass die Schutzbedürftigkeit des Kindes im Einzelfall in die Entscheidung miteinbezogen wird. Vielmehr bestehen anderweitige rechtliche Mittel, um den Schutz des Familienlebens eines Flüchtlings und das Kindeswohl zu gewährleisten. Im vorliegenden Fall lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag eines 2017 in Deutschland geborenen Kindes einer tunesischen Mutter und eines als Flüchtling anerkannten syrischen Vaters mit der Begründung ab, dass dem Kind in Tunesien keine Verfolgung droht. Nach Beschreitung des Klagewegs gegen diese Ablehnung legte das BVerwG den Fall schließlich dem EuGH vor, da es die Regelung des deutschen Asylgesetzes, nach der dem minderjährigen Kind eines anerkannten Flüchtlings automatisch eine abgeleitete Flüchtlingseigenschaft zugestanden wird, als mit dem Unionsrecht, insbesondere der Subsidiarität des internationalen Schutzes, unvereinbar hielt. Laut dem Generalanwalt habe der deutsche Gesetzgeber den unionsrechtlich eingeräumten Ermessensspielraum durch die automatische Ausdehnung des dem internationalen Schutz unterliegenden Personenkreises auf Familienangehörige zur Wahrung des Familienverbandes überschritten. Im Mittelpunkt steht dabei die Abwägung zwischen der Gewährleistung des Asylrechts und der Achtung des Familienlebens der geflüchteten Person, die angesichts der fehlenden Schutzbedürftigkeit des Kindes im vorliegenden Fall zugunsten des Asylrechts ausfallen müsse. Die Schlussanträge des Generalanwalts sind für den EuGH nicht bindend.
Kein Whistleblower-Schutz bei unzureichendem öffentlichem Interesse – EGMR
In dem Fall eines Whistleblowers entschied der EGMR am 11. Mai 2021 mit Urteil in der Rs. Halet v. Luxemburg Nr. 21884/18 (in Französisch), dass das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK bei unzureichendem öffentlichen Interesse an der Information nicht verletzt ist (vgl. EiÜ 06/21). Im zugrundeliegenden Fall legte ein Arbeitnehmer in den als „Luxleaks“ bekannt gewordenen Fällen Steuerdeals zwischen großen multinationalen Unternehmen und den luxemburgischen Steuerbehörden offen. Der EGMR erkennt zwar im Grundsatz an, dass der Antragsteller als Whistleblower anzusehen ist und mit seinen Handlungen ein legitimes Ziel verfolgte. Dennoch überwiegt im konkreten Fall die schwerwiegende Verletzung des Berufsgeheimnisses und die hierdurch verursachte Rufschädigung des Arbeitgebers PricewaterhouseCoopers. Nach Auffassung des EGMR sei das öffentliche Interesse, angesichts der weder unerlässlichen noch neuen oder bislang unbekannten Informationen, vergleichsweise gering. Auch aufgrund der milden Strafe in Höhe von 1.000 € sei nicht zu befürchten, dass diese abschreckende Wirkung auf die Ausübung der freien Meinungsäußerung in zukünftigen Fällen habe. Die Interessensabwägung des Gerichts fiel somit in diesem Fall zugunsten des Arbeitgebers aus.
EGMR nimmt polnische Justizreform ins Visier – EGMR
Der EGMR urteilte erstmals am 7. Mai 2021 über die Richterbesetzung des polnischen Verfassungsgerichts seit der strittigen nationalen Justizreform in 2015, 2017 und 2018 in seinem Urteil Xero Flor v. Polen Nr. 4907/18 (in Englisch). Die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts über die Einstellung der Verfassungsbeschwerde eines polnischen Unternehmens verstoße gegen das Recht auf Zugang zu einem gesetzlich errichteten Gericht gemäß Art. 6 EMRK. Nach Auffassung des EGMR erfolgte zum einen die Ernennung eines Richters auf eine bereits rechtmäßig besetzte Stelle. Zum anderen war die Beteiligung des neuen Richters entscheidungserheblich und stellt somit eine Gefahr für die Unabhängigkeit des Gerichts dar. Die polnische Regierung ist nun dazu aufgerufen Abhilfe gegen die rechtswidrige Besetzung des Verfassungsgerichts zu schaffen, wobei ihr Art und Umfang der Maßnahmen freistehen. Der EGMR teilte zudem in einer Pressemitteilung vom 10. Mai 2021 mit, in Zukunft Verfahren, die sich mit der polnischen Justizreform beschäftigen, als priorisiert zu behandeln (vgl. EiÜ 21/20). Das Gericht forderte Polen zudem dazu auf, sich zur richterlichen Unabhängigkeit im Fall Xero Flor v. Polen sowie zu vier weiteren Fällen zu äußern.
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