Europa im Überblick, 19/2020

EiÜ 19/2020

Reaktionen auf EZB-Urteil des BVerfG – EuGH/ KOM

Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum PSPP-Programm der Europäischen Zentralbank am 5. Mai 2020 reagierte der EuGH mit einer Pressemitteilung. Er weist darauf hin, dass der Gerichtshof Urteile nationaler Gerichte grundsätzlich nicht kommentiert, diese generell aber an Urteile des EuGH aus einem Vorabentscheidungsverfahren gebunden sind. Es wird betont, dass zur Wahrung der Rechtseinheit innerhalb der EU nur der EuGH zur Kontrolle des Unionsrechts zuständig sei. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen äußerte sich ähnlich – das letzte Wort zum EU-Recht habe der Europäische Gerichtshof und niemand sonst. Der Vorrang von Unionsrecht, die Bindungswirkung der EuGH-Rechtsprechung für nationale Gerichte und die ausschließliche Zuständigkeit der Union für die Währungspolitik gehören zu den Grundprinzipien des EU-Rechts. Sie kündigte an, das Urteil genau zu analysieren und weitere Schritte einzuleiten, dabei komme auch ein Vertragsverletzungsverfahren in Frage.

Abhaltung von SE-Hauptversammlung bis Ende des Jahres möglich – KOM

Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und der geltenden Einreisebeschränkungen und Beschränkungen bei der Versammlung größerer Gruppen hat die Kommission einen Änderungsvorschlag im Hinblick auf die Verordnung Nr. 2157/2001 über Europäische Gesellschaften (SE) und die Verordnung Nr. 1435/2003 über Europäische Genossenschaften (SCE) veröffentlicht. Mit dem Gesetzesvorschlag soll es den SE und den SCE ermöglicht werden, ihre Haupt- bzw. Generalversammlung, anstatt der in Artikel 54 genannten Sechsmonatsfrist, nun binnen 12 Monaten nach Abschluss des Geschäftsjahres, spätestens jedoch am 31. Dezember 2020, abzuhalten. Das Europäische Parlament hat dem Vorschlag am 13. Mai 2020 im Plenum zugestimmt. Die Zustimmung des Rates muss noch folgen.

Künstliche Intelligenz und Ethik: Empfehlungen an Kommission – EP

Im Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments (JURI) liegt der Entwurf eines Initiativberichts mit Empfehlungen an die EU-Kommission zur Schaffung eines rechtlichen Rahmens für die ethischen Aspekte von künstlicher Intelligenz und Robotik vor. Berichterstatter Ibán García Del Blanco (S&D) empfiehlt der EU-Kommission den Erlass einer Verordnung über ethische Grundsätze für die Entwicklung, den Einsatz und die Nutzung von künstlicher Intelligenz, Robotik und damit zusammenhängenden Technologien und legt hierzu einen Textvorschlag vor. Außerdem solle eine Europäische Agentur für Künstliche Intelligenz eingerichtet werden, welche die Aufsicht koordinieren und ein europäisches Zertifikat über die Einhaltung ethischer Grundsätze entwickeln solle. Grundprinzipien der Verordnung sollten Transparenz und Rechenschaftspflicht, Schutzmaßnahmen gegen Diskriminierung, umweltfreundliche und nachhaltige Entwicklung sowie die Achtung von Privatsphäre und Datenschutz sein. Wichtig sei auch, dass die menschliche Kontrolle über die Systeme jederzeit möglich sei.

Unterbringung in ungarischem Transitlager ist Haft – EuGH

Die Unterbringung von Asylbewerbern im ungarischen Transitlager Röszke schränkt die Bewegungsfreiheit der Insassen so stark ein, dass sie als Haft zu qualifizieren ist und gegen EU-Recht verstößt. Dies entschied der EuGH am 14. Mai in den verbundenen Rs. C-924/19 PPU, C-925/19 PPU (nur in französischer Sprache) und folgte damit den Schlussanträgen (nur in französischer Sprache) von Generalanwalt Pikamäe (vgl. EiÜ 16/20). Dem Urteil lag ein Fall von iranischen bzw. afghanischen Staatsangehörigen zugrunde, deren Asylgesuch in Ungarn als unzulässig abgelehnt worden war, da sie über Serbien eingereist seien und damit über einen Drittstaat, in dem keine Gefahr der Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens bestehe. Eine Ausreise nach Serbien wurde ihnen von Serbien verwehrt. Nun muss das vorlegende ungarische Gericht nach den Vorgaben des EuGH prüfen, ob die Inhaftierung der Betroffenen unzulässig war und diese, wenn dies der Fall ist, unverzüglich freilassen. Der EuGH hat den Begriff der Haft für die Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU damit weiter ausgelegt als es der EGMR im Fall Ilias und Ahmed gg. Ungarn (Rs. 47287/15) im November 2019 mit dem Argument getan hatte, die Personen könnten ohne Probleme nach Serbien ausreisen.

Kenntnis von Strafbefehl ist Voraussetzung für Strafverfolgung – EuGH

Der EuGH entschied am 14. Mai 20 in einem Vorabentscheidungsverfahren, dass eine Person nicht wegen eines Verstoßes gegen einen Strafbefehl verurteilt werden kann, wenn sie nicht nachweislich von dessen Inhalt Kenntnis erlangt hat. Hintergrund war ein Strafbefehl, der samt Fahrverbot gegen einen polnischen LKW-Fahrer in Deutschland erlassen worden und nach Ablauf der zweiwöchigen Widerrufsfrist auch rechtskräftig geworden war. Am letzten Tag des Fahrverbots wurde der Fahrer von einer Polizeistreife in Deutschland kontrolliert, die Staatsanwaltschaft Offenburg erhob daraufhin Anklage wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Problematisch hieran war, dass nicht mehr geklärt werden konnte, ob der Beschuldigte den Strafbefehl tatsächlich erhalten hatte. Das Amtsgericht Kehl ging davon aus, dass der Beschuldigte bis zum Zeitpunkt der Kontrolle nichts von dem Fahrverbot wusste und hatte im Zuge dessen Zweifel daran, dass die EU-Richtlinie 2012/13 mit der deutschen Regelung, nach der die Frist zur Einlegung eines Einspruchs bereits mit der Zustellung an den Bevollmächtigten zu laufen beginnt, vereinbar ist. Hiergegen äußerte der EuGH keine Bedenken, solange dem Betroffenen bei Kenntniserlangung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach §§ 44, 45 StPO gewährt wird. Jedoch verstoße es gegen Art. 6 der Richtlinie, der die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte gewährleisten soll, wenn es möglich wäre, eine strafrechtliche Verfolgung aufgrund eines Strafbefehls zu betreiben, gegen den die beschuldigte Person sich noch nicht zur Wehr setzen konnte.

Empfehlungen für Künstliche Intelligenz und Haftungsfragen – EP

Am 12. Mai 2020 stellte Berichterstatter Axel Voss dem Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments (JURI) seinen Initiativbericht mit Empfehlungen an die Kommission zu zivilrechtlicher Haftung beim Einsatz künstlicher Intelligenz vor. Der Entwurf dient dazu, neuen rechtlichen Herausforderungen infolge des Einsatzes von Systemen mit künstlicher Intelligenz Rechnung zu tragen. Ziel sei die Gewährleistung von Rechtssicherheit für Hersteller, Betreiber und betroffene Personen. Zur Erreichung dieses Ziels sei es allerdings nicht notwendig, neue Regelungen zu schaffen. Vielmehr seien konkrete Anpassungen der bisherigen Haftungsvorschriften vorzunehmen. Die im Bericht vorgeschlagene Verordnung würde sich dabei auf KI-Systeme mit hohem Risiko beschränken, die einer verschuldensunabhängigen Haftungsregelung unterliegen und an eine Gefährdungshaftung angelehnt sind. Im Anhang werden fünf Hochrisiko-KI-Systeme in einer abschließenden Liste aufgeführt, die u.a. Drohnen, autonomes Fahren und autonome Fahrleitsysteme umfassen. Kritik von den Ausschussmitgliedern wurde im Hinblick auf die Definitionen und den Umfang der harmonisierten Bestimmungen geäußert. Des Weiteren wurde auch die Frage nach der Verteilung der haftenden Personen und des Mitverschuldens aufgeworfen. Die Frist für Änderungsanträge zu diesem Bericht läuft am 25. Mai 2020 ab.

Zukunft des freien Dienstleistungsverkehrs – mehr Binnenmarkt! – EP

Die Freizügigkeit von Dienstleistungen kann für die Bewältigung der durch COVID-19 verursachten Wirtschaftskrise von größter Bedeutung sein. Diese Auffassung vertritt Morten Løkkegaard (Renew) als Berichterstatter im IMCO-Ausschuss in seinem Initiativbericht zur Stärkung des Binnenmarkts und der Zukunft des freien Dienstleistungsverkehrs. Der Berichterstatter empfiehlt, sich noch stärker mit den nationalen Hindernisse innerhalb des Binnenmarktes zu befassen und bedauert in diesem Zusammenhang den Kommissionsvorschlag für ein Notifizierungsverfahren (s. EiÜ 8/18). Er spricht sich auch für eine angemessene Durchsetzung der bestehenden Gesetzgebung ein und unterstützt die Pläne der Kommission hierzu (s. EiÜ 10/20), Er setzt sich zudem mittels Einführung nationaler Informationsportale für mehr Klarheit der nationalen Regulierung ein. Er fordert die Kommission auf, durch neue Restriktionsindikatoren zusätzliche Bewertungsinstrumente bereitzustellen. Diese sollen den Mitgliedsstaaten helfen, noch besser Zugangs- und Ausübungshindernisse zur Erbringung von Dienstleistungen in der nationalen Berufsregulierung festzustellen.

Freie Anwaltswahl im Mediationsverfahren gesichert – EuGH

In seinem Urteil in der Rs. C-667/18 kommt der EuGH am 14. Mai 2020 zu dem Ergebnis, dass Rechtsschutzversicherte ihr Recht auf freie Anwaltswahl auch dann ausüben können, wenn sie sich für eine gerichtliche oder außergerichtliche Mediation entscheiden. Die Vorlagefrage beschäftigte sich mit der Auslegung des in Art. 201 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2009/138/EG enthaltenen Begriffs „Gerichts- oder Verwaltungsverfahren“, in dem es dem Versicherten freisteht, einen Rechtsanwalt zu wählen. Das belgische Recht sah vor, dass einem Rechtsschutzversicherten das Recht auf freie Anwaltswahl bei einer Mediation verwehrt war, im Gegensatz zu einem Schiedsverfahren. Der EuGH schließt sich den Schlussanträgen an (vgl. EiÜ 44/19) und legt den Begriff „Gerichtsverfahren“ nun so aus, dass in dieser Bestimmung ein gerichtliches oder außergerichtliches Mediationsverfahren umfasst ist, wenn ein Gericht beteiligt ist oder werden kann, sei es bei der Einleitung oder nach Abschluss dieses Verfahrens. Im Rahmen eines Verfahrens, das geeignet sei, die Rechtsstellung des Versicherungsnehmers endgültig festzulegen, ohne dass die tatsächliche Möglichkeit bestehe, diese Rechtsstellung im Wege einer Klage zu ändern, bedürfe es rechtlichen Schutzes. Schließlich sei es inkohärent, wenn das Unionsrecht die Anwendung alternativer Streitbeilegungsmethoden fördere und gleichzeitig die Rechte der Einzelnen einschränkte, indem keine freie Anwaltswahl vorliegt.

In eigener Sache – DAV

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