EiÜ 24/2020
Einigung bei der EU-Verbandsklage erzielt – EP/Rat
Nach Corona-bedingter Verhandlungspause und nach nur zwei Trilogverhandlungsrunden (vgl. EiÜ 4/20) einigten sich die Vertreter von EU-Parlament und Rat auf einen finalen Text zu der Einführung einer europaweiten Verbandsklage innerhalb einer Sitzung am 22. Juni 2020 (s. Pressemitteilung des EU-Parlaments). Zu den Hauptelementen des Kompromisses zählt, dass die Unterscheidung von grenzüberschreitenden Fällen und inländischen Fällen im Hinblick auf die Anknüpfung von qualifizierten Einrichtungen und die Ausgestaltung der Verbandsklage erhalten geblieben ist. Dabei wird die Umsetzungsfrist 24 Monate betragen, um die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen, und weitere sechs Monate, um sie anzuwenden. Auch der Anwendungsbereich soll nun neben dem allgemeinen Verbraucherrecht auch Verstöße gegen Datenschutz, Finanzdienstleistungen, Reisen und Tourismus, Energie, Telekommunikation, Umwelt und Gesundheit sowie Rechte von Flug- und Bahnreisenden umfassen. Die Kommission soll des Weiteren überprüfen und festlegen, ob eine neue Behörde als Europäischer Bürgerbeauftragter für kollektive Rechtsbehelfe eingerichtet werden sollte. Der Text befindet sich derzeit in der Überprüfung durch Sprachjuristen und soll voraussichtlich im Dezember 2020 im Plenum des EU-Parlaments formal angenommen werden.
Positives Fazit zur Datenschutzgrundverordnung – KOM
Die EU-Kommission hat am 24. Juni 2020 den nach Art. 97 DSGVO vorgesehenen Evaluationsbericht (bisher nur in englischer Sprache verfügbar) etwas mehr als 2 Jahre nach Inkrafttreten der DSGVO vorgelegt und zieht darin ein insgesamt positives Fazit. Die meisten Bürger/innen kennen die DSGVO und seien dadurch in ihren Rechten gestärkt. Die Datenschutzbehörden nutzen ihre erweiterten Befugnisse, müssen jedoch in einigen Ländern noch mit angemessenen personellen, technischen und finanziellen Mitteln ausgestattet werden. Ein gewisser Grad an Fragmentierung resultiert aus den zahlreichen Öffnungsklauseln. Die Zusammenarbeit der Datenschutzbehörden mit dem Europäischen Datenschutzausschuss könne noch verbessert werden. Bisher seien bei der zentralen Anlaufstelle 141 Entscheidungsentwürfe eingegangen, von denen 79 in endgültige Entscheidungen mündeten. Die Kommission will die Zahl der Angemessenheitsbeschlüsse mit Drittstaaten erhöhen und die Standardvertragsklausel modernisieren. Da zu erwarten ist, dass der EuGH in seinem für den 16. Juli 2020 erwarteten Urteil im Fall Schrems II für den Angemessenheitsstandard einige relevante Aspekte klarstellen wird‚ wird die Kommission erst nach der Urteilsverkündung über die derzeitigen Angemessenheitsbeschlüsse Bericht erstatten. Die Kommission hat auch eine Mitteilung (bisher nur auf Englisch erhältlich) veröffentlicht, in der zehn Rechtsakte zur behördlichen Datenverarbeitung zwecks Prävention, Ermittlung und Verfolgung von Straftaten genannt werden, die an die DSGVO angepasst werden sollen.
Sorgfaltspflichten sollen gesamte Lieferkette erfassen – EP
Am 22. Juni 2020 stellte die amtierende Generaldirektorin für Justiz und Verbraucherschutz, Salla Saastamoinen, in einer gemeinsamen Sitzung mehrerer Ausschüsse des EU-Parlaments die von der Kommission in Auftrag gegebene Studie zur Einhaltung von Menschenrechten in Lieferketten vor (s. dazu auch EiÜ 8/20). Professor Markus Krajewski von der Universität Erlangen-Nürnberg und Claire Methven O’Brien vom Dänischen Institut für Menschenrechte erläuterten ihre Abhandlung zu legislativen Optionen zu Sorgfaltspflichten von Unternehmen. Darin empfehlen sie die Vorgabe von Sorgfaltspflichten bzgl. allen Arten von Menschenrechtsverletzungen sowie die Einbeziehung aller Unternehmen und deren gesamter Wertschöpfungskette in die Sorgfaltspflichten, unabhängig von ihrer Größe. Es solle kein sektorspezifischer, sondern ein allgemeiner legislativer Ansatz gewählt werden. Die Abgeordneten warfen unter anderem die Frage auf, wer die Sorgfaltspflichten kontrollieren werde und wie man kleine und mittlere Unternehmen unterstützen könne, um die Einhaltung bestimmter Sorgfaltspflichten für sie möglich zu machen.
Studie zum Europäischen Haftbefehl – EP
Der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments hat nach einer ersten Studie von Februar 2020 nun Anfang Juni 2020 eine weitere Studie zum Europäischen Haftbefehl veröffentlicht. Die vorliegende Studie enthält Schlussfolgerungen über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl und Empfehlungen und Reformvorschläge, wie festgestellte Mängel behoben werden können. In der Studie werden als Herausforderungen etwa die Überprüfung des Vorliegens der „beiderseitigen Strafbarkeit“ durch die vollstreckenden Justizbehörden, ne bis in idem, die Rolle der vollstreckenden Justizbehörde bei der Wahrung der Grundrechte der gesuchten Person sowie die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Reihe von Europäischen Haftbefehlen bei „geringfügigen Straftaten" herausgestellt. In der Studie wird u.a. empfohlen, weitere Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten einzuleiten, die den Rahmenbeschluss sowie die Richtlinien zu den Verfahrensrechten, insbesondere bezüglich des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, noch nicht vollständig umgesetzt haben bzw. anwenden. Auf lange Sicht sollte die Kommission zudem eine legislative Überarbeitung des Rahmenbeschlusses im Sinne einer „Lissabonisierung“ erwägen.
2022 möglicherweise neue Gesetzgebung zum Opferschutz – KOM
Opfer von Straftaten in der EU müssen besser geschützt werden. Das fordert die EU-Kommission in ihrer EU-Strategie für die Rechte von Opfern (2020-25) vom 24. Juni 2020 und kündigt verschiedene Maßnahmen an. Die Umsetzung der Entschädigungsvorschriften der EU einschließlich staatlicher Entschädigungen und des Rahmenbeschlusses über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen soll überwacht und – falls erforderlich – ergänzt werden. Weitere Maßnahmen sollen gewährleisten, dass alle Opfer, einschließlich Migranten, die Opfer von Straftaten geworden sind, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus Zugang zur Justiz haben und dass Opfer im Kindesalter Zugang zu kinderfreundlicher Justiz haben (s. zum Umsetzungsbericht der Opferschutzrichtlinie auch EiÜ 20/20). Mitgliedstaaten sollen außerdem – wo noch nicht vorhanden – nationale Opferschutzstrategien aufstellen. Schließlich soll es vermehrt Schulungsmaßnahmen für Justizbehörden, Anwälte, Staatsanwälte, Gerichtspersonal, Gefängnis- und Bewährungspersonal geben. Die Kommission kündigt für 2022 – je nach Ergebnis der vorgenannten Maßnahmen und Bewertungen – weitere Legislativmaßnahmen an.
Ungarns Asylpraxis verstößt erneut gegen Unionsrecht – EuGH
Die ungarische Asylpraxis ist erneut Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Ungarn vor dem EuGH. Generalanwalt Pikamäe stellte am 25. Juni 2020 in seinen Schlussanträgen fest, Ungarn habe durch seine nationalen Rechtsvorschriften zum Asylrecht und zur Rückführung von illegal eingereisten Personen seine unionsrechtliche Pflicht zur Gewährleistung eines effektiven Zugangs zu einem Asylverfahren verletzt. Die Klage richtet sich gegen die ungarische Praxis, nach der Asylanträge persönlich und ausschließlich in Transitzonen gestellt werden müssen. Dies habe zur Folge, dass jeder Asylbewerber während der Prüfung seines Antrags systematisch interniert werde, was einen Verstoß gegen Art. 3 und 6 der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32 darstelle. In seinen Schlussanträgen bezieht Pikamäe sich auf ein kürzlich ergangenes Urteil des EuGH, nach dem die Unterbringung von Personen, die internationalen Schutz beantragen, in einer ungarischen Transitzone als Haft anzusehen sei (vgl. EiÜ 19/20). Schließlich stelle auch die Anwendung der Rückführungsrichtlinie 2008/115 auf Drittstaatsangehörige, die nicht beim illegalen Grenzübertritt aufgegriffen wurden, eine unzulässige Rechtspraxis dar und verstoße gegen Unionsrecht.
Aserbaidschan: Kammerausschluss rechtswidrig – EGMR
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 25. Juni 2020 über die Beschwerde des aserbaidschanischen Anwalts Bagirov, der aufgrund öffentlicher Aussagen über Polizeibrutalität zunächst für ein Jahr vom Rechtsanwaltsberuf suspendiert und schließlich ganz ausgeschlossen worden war. Die Disziplinarmaßnahmen bezogen sich auf Äußerungen des Beschwerdeführers zum Tod des Sohnes einer Mandantin, der durch die Polizei gefoltert und ermordet worden sein soll, sowie auf solche, die er als Verteidiger eines Oppositionspolitikers getätigt hatte. In dem Verfahren, in dem sein Ausschluss aus der Anwaltskammer angeordnet wurde, befand das Gericht, die Aussagen des Klägers hätten das Ansehen der Justiz des Landes geschädigt. Dieses Urteil wurde vom Obersten Gericht Aserbaidschans bestätigt. Der Beschwerdeführer machte geltend, sowohl durch die Suspendierung als auch durch den Ausschluss aus der Anwaltskammer eine Verletzung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung gem. Art. 10 sowie seines Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gem. Art. 8 EMRK erlitten zu haben. Der Gerichtshof teilte diese Ansicht und entschied, die Disziplinarmaßnahmen stellten einen unverhältnismäßigen Eingriff in Bagirovs Rechte dar. Der EGMR verweist auf den besonderen Status und die zentrale Stellung der Anwaltschaft in der Justiz und die grundlegende Rolle, die sie beim Schutz der Grundrechte spielt.
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