EiÜ 28/2021
Rede zur Lage der Union: die EU-Kommission hat viel vor – KOM
Wie bereits 2020 stand in der Rede von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zur Lage der Union 2021 die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten im Vordergrund (vgl. EiÜ 30/20). Mit Blick auf 2022 kündigte sie an, dass der Rechtsstaatlichkeitsbericht nun auch konkrete Empfehlungen an die Mitgliedsstaaten enthalten soll. In der an die Rede anschließenden Debatte im EU-Parlament versicherte die EU-Kommissionspräsidentin, dass in den nächsten Wochen erste Schreiben an Mitgliedsstaaten im Zusammenhang mit den Vorschriften zur Rechtsstaatlichkeitskonditionalität verschickt werden (vgl. EiÜ 24/21; 23/21; 10/21). Auch das neue Migrations- und Asylpaket wurde in der Rede thematisiert (vgl. EiÜ 26/21; 31/20). Die EU-Kommission bemängelt insoweit die bislang nur geringfügigen Fortschritte und fordert eine Europäische Migrationsmanagementpolitik. Gerichtet an das EU-Parlament und den Rat stellte die EU-Kommission im Anschluss an die Rede in einer sog. Absichtserklärung die gesetzgeberischen Pläne für 2022 vor. Diese beinhalten beispielsweise eine Initiative zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des materiellen Insolvenzrechts sowie Legislativvorschläge zur Umsetzung der OECD-Vereinbarung zur Mindestbesteuerung (vgl. EiÜ 10/21). Darüber hinaus soll 2022 ein Vorschlag zur Anerkennung der Elternschaft zwischen Mitgliedsstaaten (vgl. EiÜ 19/21; 14/21) sowie eine Initiative zur Übertragung der Strafverfolgung vorgelegt werden.
Digitalisierung: EU-Kommission setzt hohe Ziele – KOM
Die EU-Kommission hat diese Woche einen Beschlussvorschlag (in Englisch) zur Verwirklichung des digitalen Wandels der Gesellschaft und Wirtschaft bis 2030 vorgelegt. Dieser beruht auf den Digitalzielen der EU, die im Rahmen der sog. digitalen Dekade bis 2030 umgesetzt werden sollen (vgl. EiÜ 09/21; 35/20). Die EU-Kommission schlägt hierzu eine gemeinsame Definition von Digitalisierungszielen mit den jeweiligen Mitgliedstaaten vor. So sollen bis 2030 z.B. 75 % der Unternehmen Cloud-Services, Big-Data und Künstliche Intelligenz nutzen. Im öffentlichen Sektor sollen alle Kerndienstleistungen für EU-Bürger online zugänglich sein und mindestens 80 % der EU-Bürger eine digitale Identifikation nutzen. Um dies auch praktisch umzusetzen sollen die Mitgliedsstaaten Fahrpläne zur Erreichung dieser Ziele erarbeiten. Die EU-Kommission soll die Digitalisierungsfortschritte dann in einem jährlichen Bericht an EU-Parlament und Rat festhalten und den Mitgliedsstaaten gegebenenfalls Empfehlungen aussprechen. Ferner möchte die EU-Kommission sog. Mehrländerprojekte fördern, d.h. gemeinsame Großprojekte verschiedener Mitgliedsstaaten im digitalen Bereich z.B. zum Ausbau der 5G-Kommunikation oder zur Verbesserung der Dateninfrastruktur.
Kampf gegen strategische Klagen gegen Journalisten – KOM
Die EU-Kommission nimmt die nächste Stufe im Kampf gegen strategische Klagen gegen Journalisten (SLAPP) und stellte am 16. September 2021 Empfehlungen (in Englisch) an die Mitgliedsstaaten vor. SLAPP sind strategische Klagen ohne Aussicht auf Erfolg. Sie werden auch in EU-Mitgliedsstaaten als Druckmittel zur Einschüchterung von Journalisten eingesetzt, um beispielsweise Ermittlungen gegen Korruption zu erschweren oder ganz zu verhindern, und verursachen für diese hohen Kosten. Den Mitgliedsstaaten empfiehlt die EU-Kommission nun etwa, rechtliche und psychologische Beratung für betroffene Journalisten zur Verfügung zu stellen. Im kommenden Jahr will die EU-Kommission einen Gesetzentwurf zur Medienfreiheit vorstellen und SLAPP verbieten. Bereits Anfang des Jahres hat die EU-Kommission eine Anti-SLAPP Expertengruppe ins Leben gerufen, in der über den Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) auch Rechtsanwältin Dr. Roya Sangi, Mitglied des DAV-Ausschusses Verfassungsrecht, vertreten ist. Mit einem kürzlich vorgelegten Berichtsentwurf (in Englisch) verfolgt auch das EU-Parlament das Thema intensiv (vgl. auch Studie des Wissenschaftlichen Diensts des EU-Parlaments; vgl. EiÜ 22/21).
Erlaubt der EuGH die anlasslose Vorratsdatenspeicherung? – EuGH
Die Große Kammer des EuGH verhandelte in dieser Woche zum deutschen Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung (Rs. C-793/19 und C-794/19) sowie zu einem irischen (C-140/20) und einem französischen (C-339/20 und C-397/20) Vorratsdatenspeicherungsfall. Während 13 Mitgliedsstaaten weitgehende Möglichkeiten zur anlasslosen Speicherung forderten, betonte der Vertreter des deutschen Telekommunikationsunternehmens SpaceNet, dass auch etwa bei einer kurzen Speicherdauer bereits ein umfassendes Profil des Nutzers erstellt werden könne. Ob der EuGH dem Drängen der Staaten nachgibt und sein Verbot der anlasslosen Speicherung (vgl. Anwaltsblatt) weiter aufweicht (wie bereits 2020, vgl. Anwaltsblatt; vgl. EiÜ 33/20), wird sich erst 2022 zeigen. Zunächst wird in einigen Monaten der Generalanwalt seine nicht bindenden Schlussanträge vorstellen. Die EU-Kommission sondiert derweil bereits legislative Optionen für eine Neuauflage zur 2014 gekippten EU-Richtlinie (vgl. EiÜ 25/21). Der DAV bleibt bei seiner klaren Position: die anlasslose Vorratsdatenspeicherung verstößt gegen die EU-Grundrechtecharta, eine Neuauflage ist daher inakzeptabel.
Wann liegt ohne Rechtsanwalt ein faires Verfahren vor? – EGMR
Der EGMR hat mit Urteil vom 14. September 2021 in der Rs. Brus v. Belgien (Nr. 18779/15; in Französisch) die Maßstäbe konkretisiert, wann das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK verletzt ist, wenn der Betroffene im Strafverfahren keinen Zugang zu einem Rechtsanwalt hatte (vgl. grundlegend hierzu auch Urteil des EGMR vom 9. November 2018 in Rs. Beuze v. Belgium, Nr. 71409/10; vgl. EiÜ 40/18). Der niederländische Beschwerdeführer wurde in Belgien wegen Korruptionshandlungen zu einer Freiheitsstrafe von 40 Monaten und einer Geldstrafe von 50.000 Euro verurteilt. Während der Untersuchungshaft und Ermittlungsphase durfte er bei den Anhörungen, Vernehmungen sowie sonstigen Ermittlungshandlungen nicht von seinem Rechtsanwalt begleitet werden. Da es keine zwingenden Gründe für diese Beschränkung gab, muss nach Auffassung des EGMR ein besonders strenger Maßstab angelegt werden. Demnach trägt die jeweilige Regierung die Beweislast dafür, dass der Beschwerdeführer dennoch ein faires Verfahren erhält. Dieser Beweispflicht kam die belgische Regierung nicht nach, sodass die Vermutung für eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nicht entkräftet werden konnte. Darüber hinaus befand der Gerichtshof die Verfahrensdauer im Vorfeld des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens für unangemessen lang, da die Ermittlungen bereits im Jahr 2001 begannen, die Anklage aber erst 10 Jahre später erhoben wurde.
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