Europa im Überblick, 31/2021

EiÜ 31/2021

Konsultation zu strategischen Klagen gegen Rechtsverteidiger (SLAPP) – KOM

Die EU-Kommission hat eine öffentliche Konsultation zum Schutz von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern gegen missbräuchliche Gerichtsverfahren (sog. SLAPP-Klagen) gestartet. Solche – in der Regel unbegründete – Klagen dienen der Einschüchterung von Personen, die sich zu Themen von öffentlichem Interesse äußern wollen. Hiermit reagiert die EU-Kommission auf die wiederholten Aufforderungen des EU-Parlaments eine Gesetzesinitiative zur Bekämpfung von SLAPP-Klagen einzureichen (vgl. EiÜ 22/21; 23/20). Die EU-Kommission hatte bereits Anfang diesen Jahres eine SLAPP-Expertengruppe eingerichtet (vgl. EiÜ 41/20). Zudem richtete sie im September 2021 Empfehlungen zur Gewährleistung des Schutzes von Journalisten an die Mitgliedstaaten (vgl. 28/21). Mit der Konsultation möchte die EU-Kommission von der Öffentlichkeit insb. wissen, welche legislativen und nichtlegislativen Maßnahmen gegen SLAPP-Klagen als sinnvoll erachtet werden. Bspw. erwägt die EU-Kommission, die Angehörigen der Rechtsberufe mit Blick auf SLAPP-Klagen zu sensibilisieren und zivilrechtliche Verfahrensgarantien gegen SLAPP-Klagen (z. B. frühzeitige Abweisungen von Klagen oder beschleunigte Verfahren) einzuführen. Rückmeldungen sind bis zum 10. Januar 2022 möglich. Die EU-Kommission möchte bis Mitte 2022 einen Richtlinienvorschlag oder eine nichtlegislative Empfehlung zur Bekämpfung von SLAPP-Klagen vorlegen.

Justizminister: Kommen EU-Regeln zur Untersuchungshaft? – Rat

Die Justizminister der EU sprachen am 7. Oktober u.a. über Handlungsbedarf zu Untersuchungshaft und Haftbedingungen in der EU. Diskussionsgrundlage war ein Non-paper der EU-Kommission, welches zu dem Ergebnis kommt, dass Mindestregeln für Haftbedingungen und Verfahrensrechte bei Untersuchungshaft im Kontext des Europäischen Haftbefehls Bedenken wegen möglicher Grundrechtsverstöße entgegenwirken könnten und zu einem verbesserten Auslieferungsverfahren führen könnten. Das Non-Paper enthält eine Übersicht über die wichtigsten möglicherweise regelungsbedürftigen Punkte in den Bereichen U-Haft (z.B. Anforderungen an den Verdacht und U-Haft-Gründe, letztes Mittel, Alternativen zu U-Haft, Entscheidung über U-Haft, Haftprüfung, Anhörungen, Rechtsmittel) und Haftbedingungen (Zellengröße, Hygienestandards, Zeit außerhalb der Zelle, Zugang zu medizinischer Versorgung, Schutz vor Gewalt unter Inhaftierten). Es enthält einen vergleichenden Überblick über bestehende Regelungen in europäischen Mitgliedstaaten. Die EU-Kommission werde 2022 zunächst Empfehlungen zu Best Practices vorlegen, betonte Justizkommissar Reynders in der Pressekonferenz nach der Ratstagung.

KI im Strafrecht: EU-Parlament fordert Nachbesserungen – EP

Das Plenum des EU-Parlaments hat am 6. Oktober den Initiativbericht "Künstliche Intelligenz im Strafrecht und ihre Verwendung durch die Polizei und Justizbehörden in Strafsachen" verabschiedet (Berichterstatter: Petar Vitanov). Der Bericht unterstreicht die Auswirkungen des Einsatzes von KI-Instrumenten auf die Verteidigungsrechte von Verdächtigen. Wie bereits vom DAV in Stellungnahme Nr. 40/2020 gefordert, sollen Entscheidungen, die rechtliche oder ähnliche Wirkungen entfalten, immer von einem Menschen getroffen werden. Außerdem fordert der Bericht ein generelles Verbot von biometrischer Überwachung in öffentlichen Räumen. Damit liegt er auf einer Linie mit der gemeinsamen Stellungnahme (in Englisch) des Europäischen Datenschutzausschusses und des Europäischen Datenschutzbeauftragten (vgl. EiÜ 23/21). Auch der DAV steht der Überwachung von öffentlichen Räumen durch KI seit jeher kritisch gegenüber (vgl. Stellungnahme Nr. 47/2017). Obwohl der Initiativbericht legislativ nicht bindend ist, fließt er in die laufenden Verhandlungen des KI-Vorschlags der EU-Kommission (vgl. EiÜ 14/21) im federführenden Binnenmarkt-Ausschuss (IMCO) des EU-Parlaments ein.

Umweltrecht: Klagebefugnisse durch die neue Århus-Verordnung – EP

Am 5. Oktober 2021 hat das Plenum des EU-Parlaments in Straßburg die geänderte Århus-Verordnung angenommen. Wie vom DAV bereits in Stellungnahme Nr. 37/2021 gefordert (vgl. EiÜ 18/21), soll diese u.a. die Klagebefugnisse im Umweltrecht neu regeln. Hintergrund ist, dass der UN-Ausschuss zur Einhaltung der völkerrechtlichen Århus-Konvention schon 2017 in einem Bericht (in Englisch) bemängelt hatte, dass die EU die Århus-Konvention nicht umfassend umsetze. Die geänderte Århus-Verordnung regelt die öffentliche Kontrolle von EU-Verwaltungsakten durch Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen. Somit soll sie einen besseren Zugang der Öffentlichkeit zu Gerichten gewährleisten, wenn diese Akte Rechts- und Außenwirkung haben und Bestimmungen enthalten, die gegen das Umweltrecht verstoßen könnten. Die Annahme kommt gerade noch rechtzeitig für die siebte Tagung der Vertragsparteien der Århus-Konvention, die vom 18. bis 20. Oktober in Genf stattfinden wird.

Interinstitutionelle Verhandlungen über Daten-Governance-Gesetz – Rat

Der Ausschuss der Ständigen Vertreter des Rates der Europäischen Union (AStV) hat dem Rat am 1. Oktober 2021 ein Mandat (in Englisch) zur Verhandlung mit dem EU-Parlament über den Verordnungsvorschlag der Kommission für ein Daten-Governance-Gesetz (vgl. EiÜ 40/20) erteilt. Das geplante Gesetz ist eine der ersten Maßnahmen, die die europäische Datenstrategie (vgl. EiÜ 7/20) umsetzen soll. Der Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) des EU-Parlaments hat sich bereits mit diesem Gesetzesvorschlag befasst und einen Bericht vorgelegt. Der Rat und das EU-Parlament werden nun im sogenannten informellen Trilog über das Daten-Governance-Gesetz verhandeln und versuchen eine Einigung zu erzielen.

EU kann Istanbul-Konvention ohne Einstimmigkeit beitreten – EuGH

Die EU kann der Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt beitreten, auch wenn nicht alle Mitgliedstaaten dem zugestimmt haben. Dies befand der EuGH am 6. Oktober 2021 in seinem Gutachten Nr. 1/19 und folgte den Schlussanträgen von Generalanwalt Hogan. Das bereits 2011 vom Europarat ausgearbeitet Übereinkommen fällt laut EUGH als gemischtes Übereinkommen sowohl in die Zuständigkeit der EU als auch der Mitgliedstaaten. Daher müssen die EU und die Mitgliedstaaten das Übereinkommen unterzeichnen. Ungarn und die Slowakei haben das Übereinkommen beispielsweise nicht ratifiziert (vgl. Liste), Polen prüft einen Austritt. Das in Art. 218 AEUV vorgesehene Abschlussverfahren dürfe nicht um einen weiteren Schritt ergänzt werden, indem der Erlass des Beschlusses über den Abschluss des Übereinkommens von der vorherigen einstimmigen Entscheidung abhängig gemacht werde, so der EuGH nun. Sonst hinge die Union bei gemischten Abkommen künftig stets von jedem einzelnen Mitgliedstaat der EU ab. Der Rat verfüge zwar über ein politisches Ermessen, mit einer qualifizierten Mehrheit etwa Aussprachen herbeizuführen oder Abstimmungen abzuhalten, Einstimmigkeit sei dabei jedoch nicht erforderlich.

Polnisches Verfassungsgericht bestreitet Vorrang von Unionsrecht - Polen

Das polnische Verfassungsgericht hat das Primat des Unionsrecht in einem Urteil vom 7. Oktober 2021 erneut infrage gestellt. Konkret urteilte das Gericht, dass die Artikel 1 und 19 des EU-Vertrags gegen die polnische Verfassung verstoßen. Die darin enthaltene Pflicht, wirksamen und unabhängigen Rechtsschutz im Bereich des Unionsrechts zu schaffen, ist eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, das hiermit abermals in Abrede gestellt wird. Der DAV fordert in einer Pressemitteilung die Europäische Kommission dazu auf, nun erstmalig Gebrauch vom Instrument des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus zu machen. Die EU-Kommission hält aktuell bereit aufgrund des fortschreitenden Abbaus der Rechtsstaatlichkeit in Polen 58 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zurück. In einem ersten Statement betonte Justizkommissar Reynders bereits, die EU-Kommission werde alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ausschöpfen, um auf das Urteil zu reagieren. Zum Thema Rechtsstaatlichkeit findet am 22. Oktober die erste öffentliche Konferenz der Initiative Weimarer Dreieck der Anwalt­schaften statt. Die Veranstaltung (englisch mit deutschen/polnischen/franzö­sischen Untertiteln) ist kostenlos. Hier finden Sie Informa­tionen zum Programm und zur Anmeldung.

Polen: Versetzung eines Richters verstößt gegen Unionsrecht – EuGH

Der EuGH hat im Rahmen eines Urteils vom 07. Oktober 2021 in der Rechtssache C-487/19 erneut entschieden, dass die Unabhängigkeit der Justiz in Polen – vorbehaltlich einer Überprüfung des vorlegenden Gerichts – nicht gewährleistet ist. Das Urteil des EuGH fügt sich in eine Reihe von Entscheidungen des EuGH und des EGMR ein, in denen die Gerichte Zweifel an der Unabhängigkeit der polnischen Justiz äußerten (vgl. u.a. EiÜ 25/21; 17/21; 39/19; 26/19). Dem Vorabentscheidungsersuchen des polnischen Obersten Gerichts liegt ein Rechtsstreit über die Versetzung eines polnischen Bezirksrichters, der sich kritisch zu den polnischen Justizreformen geäußert hatte, in eine andere Abteilung des Bezirksgerichts zugrunde. Nach dem EuGH kann sich eine Versetzung auf die gem. Art. 19 EUV notwendige Unabhängigkeit des Bezirksgerichts auswirken, da Richter grundsätzlich unabsetzbar sein müssen. Es ist daher notwendig, dass Richter sich gegen Versetzungen vor einem unabhängigen Gericht wehren können. Die für die Rechtsmittelentscheidung letztinstanzlich zuständige Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des polnischen Obersten Gerichts ist jedoch – vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorlegende Gericht – nicht unabhängig.  Dies folgt insb. daraus, dass die Vorschriften und der Ablauf des Verfahrens zur Besetzung der Kammer rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht genügen.    

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