EiÜ 38/2020
Rechtsstaatlichkeit für den Schutz des EU-Haushalts verankert – EP/Rat
Unter deutschem Ratsvorsitz haben sich die Verhandlungsführer aus Rat und EU-Parlament über eine Rechtsstaatlichkeits-Konditionalität für europäische Haushaltsmittel geeinigt. Damit ist die Zahlung von Haushaltsmitteln an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit gebunden und kann gestrichen werden, sofern festgestellt wird, dass Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip in einem Mitgliedsstaat die wirtschaftliche Führung des Haushalts der EU oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen. Alle EU-Mittel, einschließlich der im Rahmen des Aufbauinstruments „NextGenerationEU“ bereitgestellten Mittel, sind abgedeckt. Das EU-Parlament könnte sich mit seiner Forderung nach einem strikteren und schnelleren Mechanismus durchsetzen. So wurde die Zeitspanne von 12-13 Monaten, wie vom Rat gefordert, nun auf 7 bis 9 Monaten verkürzt, in der die EU-Institutionen nach Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit Strafen gegen einen Mitgliedsstaat verhängen können. Der neue Mechanismus soll nicht nur bei direkten Missbrauchsfällen von EU-Geldern wie Korruption Anwendung finden, sondern ebenso bei systematischen Verletzungen der EU-Grundwerte, einschließlich der Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz oder bei Einschränkungen von Rechtsmitteln. Der präventive Charakter des Instruments ist dadurch gewährleistet, dass er auch ausgelöst werden kann, wenn nationale Maßnahmen ein ernsthaftes Risiko für eine Verletzung der oben genannten Prinzipien darstellen. Der Mechanismus wird durch eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung seitens des Rats nach Feststellung einer Verletzung durch die EU-Kommission ausgelöst. Das Verhandlungsergebnis basiert auf dem Kompromissvorschlag (in Englisch) der deutschen Ratspräsidentschaft vom 29. September 2020. Die vorläufige Einigung muss nun formal von beiden Organen zur Billigung vorgelegt werden.
Keine automatische Ablehnung Europäischer Haftbefehle aus Polen - EuGH
In dem Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam in den Rs. C-354/20 und C-412/20 vor dem EuGH ergingen am 12. November 2020 die Schlussanträge. Der Generalanwalt ist der Auffassung, dass die automatische Ablehnung aller Europäischen Haftbefehle aus Polen nicht gerechtfertigt ist. Das Amsterdamer Gericht hatte in Anbetracht des Urteils in der Rs. C‑216/18 PPU und der späteren Zuspitzung, der in dem Urteil festgestellten Mängel in der polnischen Justiz, Zweifel, ob die Grundrechte der auszuliefernden Personen nach Polen entsprechend gewahrt sind. Es wollte wissen, ob die beantragte Übergabe ohne die konkreten Umstände im Einzelnen zu prüfen, abgelehnt werden kann. Der erste Haftbefehl aus Polen erging zum Zweck der Strafverfolgung, der zweite erging zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe. Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (EHB) kann in einer Reihe von Fällen abgelehnt werden. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Vollstreckung auch dann ausgesetzt, wenn nachgewiesen ist, dass eine echte Gefahr besteht, dass im Fall der Übergabe der gesuchten Person ihre Grundrechte verletzt werden. Der Generalanwalt hebt hervor, dass die Ablehnung der Vollstreckung eines EHB, vor dem Hintergrund der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens, eine außergewöhnliche Reaktion sei. Diese erfordere außergewöhnliche Umstände, die aufgrund ihrer Schwere eine Beschränkung der oben genannten Grundsätze erfordern. Jedoch weil es sich um eine derart außergewöhnliche Reaktion handle, dürfe die Anwendung nicht so weit gehen, dass die Vollstreckung aller EHB, die von einer polnischen Justizbehörde ausgestellt werden, automatisch abzulehnen ist. Auch wenn sich die Bedrohung der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte intensiviert haben möge, sei eine automatische und unterschiedslose Aussetzung der Anwendung des Rahmenbeschlusses für sämtliche von den polnischen Gerichten ausgestellten EHB nicht ohne weiteres zulässig.
Interparlamentarische Ausschusssitzung zur Rechtsstaatlichkeit - EP
Der Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des EU-Parlaments widmete sich am 10. November 2020 im Rahmen einer interparlamentarischen Ausschusssitzung dem ersten Rechtsstaatlichkeitsbericht der Kommission (vgl. EiÜ 32/20), um den angestoßenen Dialog nicht nur im Europäischen, sondern auch in den nationalen Parlamenten weiterzuführen. Deshalb wurde neben Beiträgen von Vertretern aus EU-Parlament, Kommission und Rat auch nationalen Parlamentariern die Gelegenheiten gegeben Anmerkungen oder Fragen zu stellen. Die Enttäuschung wurde laut, dass Erfolge in Hinblick auf Polen und Ungarn im Bericht nicht enthalten seien und die Überprüfung von EU-Organisationen und deren rechtsstaatliches Handeln fehle. Hierzu wurde betont, dass der Bericht nur ein präventives Hilfsmittel zur frühzeitigen Erkennung von Rechtsstaatlichkeitsverstößen sei und durch weitere Maßnahmen wie Vertragsverletzungsverfahren oder dem neuen Mechanismus zur Rechtsstaatlichkeitskonditionalität ergänzt werden müsse. In diesem Sinne wurden die Bemühungen der deutschen Ratspräsidentschaft genannt die Erkenntnisse aus den Länderberichten mit den einzelnen Mitgliedsstaaten im Rat zu erörtern, was vom den künftigen portugiesischem Vorsitzen weitergeführt wird. Um die Debatte in den nationalen Parlamenten fortzuführen wird Justizkommissar Reynders nach einem ersten Gespräch im Deutschen Bundestag alle nationalen Parlamente besuchen. Zudem arbeitet die Kommission daran, weitere Berichte zu fundamentalen Werten wie Demokratie und Grundrechten zu erstellen.
Strenge Anforderungen an datenschutzrechtliche Einwilligung – EuGH
In seinem Urteil vom 11. November 2020 hat der EuGH in der Rs. C-61/19 die strengen Voraussetzungen der datenschutzrechtlichen Einwilligung bestätigt. Ein rumänischer Telekommunikationsanbieter forderte bei Abschluss eines schriftlichen Vertrages die Kopien von Ausweisdokumenten seiner Kunden ein, um sie aufzubewahren. Hierzu wählte er die datenschutzrechtliche Rechtsgrundlage der Einwilligung und forderte im Rahmen eines Opt-Out Verfahrens, dass Kunden der Speicherung nachträglich schriftlich widerrufen müssten. Diese Vorgehensweise rügte die Datenschutzbehörde und verhängte ein Bußgeld gegen das Unternehmen und forderte es auf, die unrechtmäßig erhobenen Ausweiskopien zu löschen. Der Telekommunikationsanbieter bekämpfte die Entscheidung vor dem Landgericht, welches dann die Frage aufgeworfen hat, ob diese Vorgehensweise des Opt-Outs (vorausgefülltes Häkchen im Vertrag) der freiwilligen, informierten und aktiven Einwilligung entsprechen könnte. Die Datenschutzgrundverordnung EU Nr. 2016/679 sowie die vorangegangene Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG verlangen für die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung eine freiwillige, informierte, bestimmte und aktiv erteilte Einwilligung des Betroffenen. Ein vorausgefülltes Häkchen in einer Vertragsklausel sowie die Anforderung eines nachträglichen schriftlichen Widerrufs genügen der freiwilligen und aktiven Einwilligung nicht, da sie die tatsächliche Kenntnis des Kunden nicht garantiert und unklar ist, ob der Widerruf keine vertragsrelevanten Konsequenzen haben könnte. Zudem ist die mündliche Aufklärung durch den Telekommunikationsdienstleister unzureichend, da die Rechenschaftspflicht über die erteilte Einwilligung nicht ausreichend erfüllt werden kann. Der EuGH bestätigt somit die strengen Anforderungen an die Einwilligung und bleibt seiner bisherigen Linie nach dem C‑673/17 (vgl. EiÜ 34/19) treu.
Vision für zukünftige Regelung des geistigen Eigentums - Rat
Der Rat hat am 10. November 2020 Schlussfolgerungen (in Englisch) über die Zukunft der europäischen Politik im Bereich des geistigen Eigentums angenommen. Insbesondere fordert der EU-Rat die Kommission auf, Vorschläge für die Überarbeitung des Rechtsrahmens für den Schutz von gewerblichen Mustern und Modellen vorzulegen. Bei dieser Überarbeitung sollten insbesondere fünf Punkte thematisiert werden. Die Komplementarität zwischen gemeinschaftlichen, nationalen und regionalen Geschmacksmusterschutzsystemen; die Zugänglichkeit dieser Systeme, beispielsweise durch Klärung und Weiterentwicklung des Schutzgegenstands und der Schutzanforderungen von Geschmackmustern; die Auswirkungen der Nutzung neuer Technologien; der Transport von Geschmacksmuster verletzenden Waren durch das Gebiet der Union, selbst wenn diese nicht für den Unionsmarkt bestimmt sind, und die Schutzfähigkeit von Bestandteilen komplexer Produkte für Reparaturzwecke im Rahmen des Geschmacksmusterschutzes. Er begrüßt ferner die jüngsten Entscheidungen des Europäischen Patentamts (EPA) über die Nichtpatentierbarkeit von pflanzlichen oder tierischen Erzeugnissen, die ausschließlich durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnen werden. Ebenso müsse der Schutz geografischer Angaben in der EU gestärkt werden. Dabei steht zur Diskussion, ein System für den Sui-generis-Schutz nichtlandwirtschaftlicher Erzeugnisse auf der Grundlage einer gründlichen Folgenabschätzung in Bezug auf die potenziellen Kosten und Nutzen zu schaffen. Bei der Bekämpfung von Produktpiraterie soll die Kommission Maßnahmen ergreifen, mit denen unter anderem Online-Plattformen und andere Hosting-Anbieter stärker eingebunden werden. Die Kommission möchte ihren Aktionsplan für geistiges Eigentum am 24. November 2020 vorlegen.
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