EiÜ 40/2020
Neue Regeln für kollektiven Rechtsschutz – EP/Rat
Mit der Annahme im EU-Parlament am 24. November wird die Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher 20 Tage nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU in Kraft treten. Die Mitgliedsstaaten haben dann 24 Monate Zeit, um die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen und weitere sechs Monate, um sie anzuwenden. Der Rat hat die Richtlinie bereits Anfang November angenommen. Damit ist das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen. Die Richtlinie geht in vielen Bereichen weit über das hinaus, was in Deutschland mit der Musterfeststellungsklage geregelt ist. Anstelle eines zwei-stufigen Verfahrens, das zunächst auf Feststellung und in weiterer Folge auf Abhilfe gerichtet ist, können qualifizierte Einrichtungen in Zukunft unmittelbar auf Beseitigung oder Schadensersatz gegen Unternehmen vorgehen. Die Mitgliedsstaaten haben bei der Umsetzung der Richtlinie einen großen Spielraum und können ihre nationalen Verbandsklagen frei gestalten, solange sie mit den Zielen der Richtlinie vereinbar sind. Das Fehlen einer klaren Kollisionsregelung und die Gefahr von Forum-Shopping hat der DAV in seiner Stellungnahme Nr. 49/2020 durchwegs kritisiert.
Nationale Hürden zur Verwirklichung des Binnenmarktes – EP
Eine Studie (in Englisch) im Auftrag des Binnenmarktausschusses des EU-Parlaments (IMCO) kommt zu dem Ergebnis, dass weiterhin viele Hindernisse für einen gut funktionierenden Binnenmarkt bestehen. Der freie Warenverkehr werde durch immer neue nationale technische Regeln, die gegen EU-Recht zu verstoßen scheinen, gehemmt. Außerdem sei das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nicht effizient genug. Einschränkungen des Niederlassungsrechts aufgrund berufsrechtlicher Regelungen und die „regulative Heterogenität“ nationaler Regulierungen führen im Gegenzug weiterhin zu Problemen bei dem Angebot von Dienstleistungen in anderen EU-Mitgliedsstaaten. Als Hürde für den freien Dienstleistungsverkehr von Rechtsanwälten betrachtet die Studie das in einigen Mitgliedstaaten weiterhin existierende Verbot des Fremdbesitzes an Kanzleien, aber auch andere Einschränkungen, die z.B. an die Nationalität anknüpfen oder die Niederlassungsfreiheit einschränken. So erfordert eine Kanzleigründung in Griechenland mindestens zwei praktizierende Rechtsanwälte, die auch nicht gleichzeitig im EU-Ausland noch praktizieren dürfen. Auch im digitalen Binnenmarkt bestehen ebenso weiterhin Hindernisse, wie z.B. durch das Geoblocking. Aufgrund der minimaler Harmonisierung der Verbraucherschutzregeln und der Rom I-Verordnung Nr. 593/2008 müssen Händler zudem de facto die Regeln aller EU-Mitgliedsstaaten kennen, in denen sie Produkte oder Dienstleistungen anbieten wollen. Letztendlich müsse es laut der Studie auch im Bereich von öffentlichen Auftragswesen Fortschritte geben: in der Anzeigetafel der Leistungsindikatoren für das öffentliche Beschaffungswesen 2019 sind 140 der 324 Einträge der Mitgliedsstaaten als „unbefriedigend" aufgeführt.
Einführung von Experimentierklauseln und Reallaboren – Rat
In seinen Schlussfolgerungen vom 16. November hat der Rat die Kommission ermutigt, in der EU mehr Experimentierklauseln zuzulassen und Reallabore zu fördern. Laut Rat hätten Reallabore zwei Vorteile: erstens, seien sie ein geeignetes Werkzeug, um neue Regulation zu testen und zu verbessern, und zweitens, können sie dazu beitragen Innovation und Wachstum von EU-Unternehmen, insbesondere KMU, zu fördern. Deshalb soll in künftigen Legislativvorschlägen die Kommission öfter für Experimentierklauseln plädieren, auf deren Grundlage dann neue Reallabore geschaffen werden könnten. Der Rat hat zudem die Kommission aufgefordert, eine Übersicht über den Stand von Reallaboren in der EU durchzuführen. Gleichzeitig betont der Rat, dass durch die Nutzung von Reallaboren natürlich nicht das Schutzniveau für Bürger gesenkt oder die Grundprinzipen der EU verletzt werden sollen.
Vollstreckende Justizbehörden zwingend unabhängig – EuGH
In der Rs. C-510/19 hat der EuGH am 24. November 2020 die vollstreckende Justizbehörde gem. Art. 6 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl (EHB)näher eingegrenzt. Die niederländischen Staatsanwälte sind entsprechend keine „vollstreckende Justizbehörde“, da sie Einzelweisungen seitens des niederländischen Justizministers unterworfen werden können. Nach dem Grundsatz der Spezialität dürfen Personen, die in Vollstreckung eines EHB dem Ausstellungsmitgliedstaat übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt werden. Außer, die vollstreckende Justizbehörde hat ihre Zustimmung dazu gegeben. Der EuGH hat nun die Zustimmung der niederländischen Staatsanwaltschaft gekippt, da diese den Weisungen des Justizministeriums unterstellt ist und eine vollstreckende Justizbehörde zwingend unabhängig sein müsse. Die erheblichen Folgen der Zustimmung auf die Freiheit der betroffenen Person erfordern einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz. Hieraus kann geschlossen werden, dass auch die weisungsgebundene deutsche Staatsanwaltschaft keine vollstreckende Justizbehörde im Sinne des Rahmenbeschlusses ist (vgl. C-508/18 und C-82/19 PPU). Die Staatsanwaltschaften in Litauen, Frankreich, Schweden und Belgien hingegen sind nach ergangener Rechtsprechung des EuGH von der Exekutive unabhängige Stellen und als vollstreckende Justizbehörde zu verstehen.
Gerichtsstand für missbräuchliches Marktverhalten – EuGH
Am 24. November 2020 hat der EuGH in der Rs. C-59/19 entschieden, dass trotz eines Vertragsverhältnisses, die Zuständigkeitsregel für eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, am Ort dieser Handlung gegeben ist. Damit begründet der EuGH die Zuständigkeit am Deliktsgerichtsstand bei Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. Ein deutsches Hotel hatte aufgrund des wettbewerbswidrigen Verhaltens gegen eine Plattform, deren Sitz in den Niederlanden liegt, in Deutschland geklagt. Die deutschen Gerichte hielten sich aber nicht für zuständig, da der allgemeine Gerichtsstand gem. Art. 4 der Brüssel Ia-Verordnung Nr. 1215/2012 am Sitz der Online-Plattform zu Anwendung kommt und gegenüber Art. 7 Nr. 1 der Brüssel Ia-Verordnung Vorrang hätten. Der EuGH bestätigte in der Sache jedoch die mögliche Kompetenz der deutschen Gerichte durch den Deliktsgerichtsstand gemäß Art. 7 Nr. 2 der Verordnung. Obgleich eine Vertragsbeziehung zwischen den Parteien vorliegt, stellt das wettbewerbswidrige Verhalten der Plattform eine unerlaubte Handlung dar, die das deutsche Hotel dazu berechtigt am Ort des Schadenseintritts in Deutschland zu klagen. Der Kläger stützt seine Beschwerde auf keinen Vertragsgegenstand, sondern richtet sich gegen das Ausnutzen der marktbeherrschenden Position der Plattform. Ein gegen deutsche Wettbewerbsvorschriften verstoßendes Verhalten könne den Deliktsgerichtsstand der Brüssel Ia-Verordnung begründen.
Kontrolle über Daten zurückerlangen – KOM
Die am 25. November 2020 vorgeschlagene Verordnung für ein Daten-Governance-Gesetz der Kommission soll durch Rechtsklarheit das Vertrauen in die Datennutzung schaffen. Vorgesehen werden hierfür eine Reihe von Maßnahmen, die das Vertrauen erhöhen und die Kontrolle über die Daten wieder zurückgewinnen. Geplant sind unter anderem die Schaffung neutraler und transparenter Datenmittler und ein erleichterter Zugang bestimmter Daten aus dem öffentlichen Sektor zu Forschungszwecken. Darüber hinaus soll der unionsweite und sektorübergreifende Datenaustausch und die gemeinsame Datennutzung für Unternehmen und Bürger verbessert werden. Durch einen attraktiveren Datenumgang in Europa in Einklang mit Werten und Grundsätzen der EU, den Datenschutzstandards gem. der Datenschutzgrundverordnung Nr. 2016/679, dem Verbraucherschutz und den Wettbewerbsvorschriften soll die Marktmacht der großen Technologieplattformen eingedämmt werden. Damit soll die Verwendung von Daten und datengestützten Produkten und Dienstleistungen sowie deren Nachfrage im gesamten Binnenmarkt gesteigert werden. Die Verordnung ist nur der erste Schritt der im Februar 2020 veröffentlichte Datenstrategie der Kommission (vgl. EiÜ 7/20), die Europa zum „weltweit führenden Datenkontinent“ leiten soll.
Produktsicherheit stärken - Verbraucher schützen – EP
Am 25. November hat das EU Parlament eine Entschließung zur Produktsicherheit im Binnenmarkt von Berichterstatterin Marion Walsmann (EPP), mit 688 Ja-Stimmen (8 Gegenstimmen und 1 Enthaltung) angenommen. Die Abgeordneten fordern, dass die EU-Vorschriften in diesem Bereich besser durchgesetzt werden müssen. Dafür soll das Marktüberwachungssystem verbessert sein, vor allem im Kontext des digitalen Wandels. Online-Plattformen sollen proaktiver gegen irreführende Praktiken vorgehen. Dazu sollen den Verbrauchern zuverlässige Produktinformationen zur Verfügung gestellt werden. Das soll unabhängig davon gelten, ob die Produkte innerhalb oder außerhalb der EU hergestellt worden sind. Dies soll auch gewährleisten, dass neue Technologien sicher sind; vor allem Produkte, die KI verwenden (vgl. EiÜ 32/20, 8/20, 7/20, 6/20, 43/18), sollen wirksamer kontrolliert werden. Die Covid-19 Pandemie hätte auch gezeigt, wie wichtig es sei, dass Produkte für Notsituationen Sicherheitsstandards entsprechen. Die Entschließung folgt auf die letzte Woche veröffentlichte Verbraucheragenda der Kommission (vgl. EiÜ 39/20), in der Produktsicherheit auch ein wichtiger Teil ist.
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