Europa im Überblick, 01/2022

EiÜ 01/2022

Aufgehobene Amnestie steht Europäischem Haftbefehl nicht entgegen – EuGH

Ein Europäischer Haftbefehl kann auch dann erlassen werden, wenn das zugrundeliegende Strafverfahren nach einer Amnestie wiederaufgenommen wurde. Dies entschied der Gerichtshof am 16. Dezember 2021 in der Rs. C-203/10 und folgte damit den Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott vom 17. Juni 2021 (vgl. EiÜ 22/21).  Dem Urteil geht ein Vorabentscheidungsersuchen von einem slowakischen Gericht voraus.  Der slowakische Regierungschef hatte im Jahr 1998 eine Amnestie in Bezug auf Straftaten, die einigen slowakischen Sicherheitsangestellten zur Last gelegt worden waren, erlassen. In Folge dessen war die Strafverfolgung eingestellt worden, was nach slowakischem Recht die Wirkung eines Freispruches hatte. Nach Aufhebung der Amnestie im Jahre  2017 wurden alle Strafverfahren wiederaufgenommen. Das zuständige slowakische Gericht beabsichtigte nunmehr einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen und fragte den EuGH daher, ob der Erlass des Haftbefehls sowie die Rücknahme der Amnestie mit dem Unionsrecht, insbesondere dem Grundsatz ne bis in idem, vereinbar seien. Der Gerichtshof bejahte diese Fragen. Er ist der Ansicht, dass der Grundsatz ne bis in idem vorliegend nicht verletzt wurde, da die Verfahren eingestellt worden waren, bevor sich die slowakischen Gerichte hierzu hatten äußern können.

Französische Ratspräsidentschaft hat begonnen – Rat

Am 1. Januar 2022 hat  die Trio-Ratspräsidentschaft von Frankreich, der Tschechischen Republik und Schweden begonnen (vgl. EiÜ 40/21). Durch ein umfangreiches Programm (in Englisch) mit dem Titel „Aufschwung, Stärke, Zugehörigkeit“ hat Frankreich die Ziele für die nächsten 6 Monate festgesetzt. Die Schaffung eines souveränen Europas, eines neuen Wachstumsmodells und eines menschlichen Europas stellen die drei Schwerpunkte der künftigen Arbeit dar. Die französische Ratspräsidentschaft stellt eine ehrgeizige Überarbeitung und Neugestaltung vieler Verordnungen und Richtlinien in Aussicht – immer vor dem Hintergrund des digitalen und nachhaltigen Wandels. Neben der Stärkung des Schengen-Raums und der Festigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sollen auch die wirtschaftlichen Grundlagen  für die Zeit nach der Corona-Pandemie erarbeitet werden. Der Green Deal und das umfassende Gesetzgebungspaket „Fit für 55“ sollen Nachhaltigkeit und CO2-Neutralität in Bereichen wie Wirtschaft, Finanzierung und Umwelt gewährleisten. Schließlich soll die EU durch die neuen Gesetze über digitale Märkte und Dienste (vgl. EiÜ 40/21; 37/21; 18/21; 1/21) zu einer echten Digitalmacht ausgebaut und die diesbezüglichen Gesetzgebungsvorhaben abgeschlossen werden.

Konsultationsverfahren zum Medienfreiheitsgesetz eröffnet – KOM

Die Kommission hat am 10. Januar 2022 eine öffentliche Konsultation zum geplanten europäischen Rechtsakt zur Medienfreiheit eröffnet. Die Konsultation bezieht sich auf drei Schwerpunkte: erstens auf die Transparenz und Unabhängigkeit der Medien (z. B. Kontrolle von Transaktionen auf dem Medienmarkt, Transparenz der Eigentumsverhältnisse im Mediensektor und Messung der Reichweite), zweitens auf die Bedingungen für ein gesundes Funktionieren der Medien (z. B. Wahrnehmung der Meinungsvielfalt durch die Öffentlichkeit, Medieninnovation auf dem EU-Markt) und schließlich auf die gerechte Zuweisung staatlicher Mittel (z. B. Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien, Transparenz und gerechte Verteilung staatlicher Werbung). Das geplante Gesetz ist ein Baustein des Aktionsplans für Demokratie (COM(2020) 790 final, vgl. EiÜ 41/20). Andere Elemente des Aktionsplans zur Stärkung der Medienfreiheit und zur Bekämpfung von Desinformation sind u.a. das Gesetzespaket zu digitalen Diensten (vgl. EiÜ 40/21; 37/21; 18/21; 1/21) und eine geplante Gesetzesinitiative gegen sog. SLAPP-Klagen (vgl. EiÜ 32/21). Bis zum 21. März 2022 können Interessenvertreter ihre Stellungnahmen abgeben. Der Kommissionsvorschlag wird auf der überarbeiteten Richtlinie 2010/13/EU über audiovisuelle Mediendienste beruhen und ist für das dritte Quartal 2022 geplant.

Verteidigungsrechte bei EuSta-Verfahren in Gefahr – CCBE

Der Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) befasste sich in einer Stellungnahme (in Englisch) vom 10. Dezember 2021 mit den Verteidigungsrechten in Verfahren unter Beteiligung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EuSta). Er kritisiert, dass die EuSta-Verordnung 2017/1939/EU und die Geschäftsordnung nur allgemeine bzw. keine Aussagen zu Verteidigungsrechten treffen. Wegen des dezentralen Charakters der EuSta hänge das Rechtsschutzniveau damit weiterhin erheblich vom Prozessrecht des Mitgliedsstaates ab, in dem das Verfahren stattfindet. Da die Ständige Kammer der EuSta im (nicht weiter konkretisierten) allgemeinen Interesse der Rechtspflege nach Art. 26 [5] VO 2017/1939/EU in bestimmten Fällen über den Ort der Anklage bestimmen kann, bestehe weiterhin die Gefahr des sog. forum shoppings, also des Ausnutzens nebeneinander bestehender Zuständigkeiten von Gerichten, um rechtliche oder tatsächliche Vorteile zu erzielen. Der CCBE fordert daher zumindest ein Anhörungsrecht des Beschuldigten bzgl. des Ortes, an dem die Anklage erhoben wird.

Bessere Arbeitsbedingungen für Plattform-Arbeitnehmer – KOM

Die Kommission strebt die Verbesserung der Plattformarbeit an. Am 9. Dezember 2021 unterbreitete die Kommission mehrere Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Menschen, die über digitale Arbeitsplattformen arbeiten. Ziele sind die Vorteile der Digitalisierung voll auszuschöpfen, Rechtssicherheit zu schaffen und nachhaltiges Wachstum digitaler Arbeitsplattformen in der EU zu unterstützen. Dieses Paket stellt eine der wichtigsten Initiativen des Aktionsplans zur Säule sozialer Rechte dar. Der Richtlinienvorschlag COM(2021) 762 final (in Englisch) beinhaltet die vereinfachte Inanspruchnahme von Arbeitnehmerrechten, die Gewährleistung von Sozialleistungen und den Schutz vor der Verwendung „algorithmischen Managements“ durch erhöhte Transparenz und der Möglichkeit konkrete Entscheidungen anzufechten. Daneben sollen Solo-Selbstständige im Einklang mit EU-Wettbewerbsrecht Tarifverhandlungen führen können. Hierzu wurde ein Entwurf für Leitlinien zu Tarifverträgen über Arbeitsbedingungen von Solo-Selbstständigen mit der Bitte um Stellungnahmen interessierter Kreise veröffentlicht. Letzter Teil des Pakets ist die Mitteilung COM/2021/761 final über die Plattformarbeit. Der Richtlinienvorschlag wird nun vom Europäischen Parlament und dem Rat erörtert. Die öffentliche Konsultation zu den Leitlinien endet am 24. Februar 2022.

Unabhängigkeit von rumänischen Richtern auf dem Prüfstand – EuGH

Am 21. Dezember 2021 hat der EuGH im Rahmen von fünf verbundenen Vorabentscheidungsverfahren (C‑357/19, u.a.) den Vorrang des Unionsrechts und die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit hervorgehoben. Hintergrund der Verfahren sind verschiedene Entscheidungen des rumänischen Verfassungsgerichts. Dieses hatte diverse Verurteilungen in strafrechtlichen Korruptionsverfahren, u.a. in Zusammenhang mit der Verwaltung von Unionsgeldern, wegen fehlerhafter Gerichtsbesetzung aufgehoben und die Verwertung von Beweismitteln für unzulässig erklärt. Da den betroffenen Richtern der Instanzgerichte bei Nichtanwendung dieser Urteile Disziplinarverfahren drohten, fragten sie den EuGH, ob es vor dem Hintergrund des Vorranges des Unionsrecht möglich ist, die Entscheidungen unangewendet zu lassen. Der EuGH betont daraufhin, dass die Mitgliedsstaaten verpflichtet sind, wirksame und abschreckende Sanktionen für Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder Korruptionsdelikte vorzusehen. Dies kann zur Folge haben, dass Nichtigerklärungen von Urteilen gegen das Unionsrecht verstoßen und deswegen unangewendet bleiben müssen. Die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der nationalen Richter durch jegliche Nichtbeachtung der Urteile verstößt demnach gegen die richterliche Unabhängigkeit und den Vorrang des Unionsrechts.

EDSB verpflichtet Europol zu mehr Datenschutz – EDSB

Der Europäische Datenschutzbeauftrage (EDSB) hat am 03. Januar 2021 eine Anordnung (in Englisch) erlassen, mit der er Europol dazu verpflichtet, personenbezogene Daten von Betroffenen zu löschen, die keine nachgewiesene Verbindung zu einer Straftat haben (s. englische Pressemitteilung). Die Anordnung bezieht sich auf personenbezogene Daten, die noch keiner sog. Data Subject Categorisation (DSC) unterzogen wurden. DSC bezeichnet ein Verfahren, in denen Europol große Datensätze, die die Mitgliedsstaaten an Europol übermitteln, u.a. nach der Stellung der betroffenen Person in einem Verfahren (z.B. Verdächtiger, Opfer, Informant etc.) gemäß Art. 18 Abs. 5 der Europol-Verordnung (2016/794/EU) kategorisiert. Ohne DSC bestehe die Gefahr, dass Europol Daten betroffener Personen ohne Verbindung zu einer Straftat unverhältnismäßig lange speichert. Europol wird durch die Anordnung verpflichtet, die DSC für nach dem 04. Januar 2021 übermittelte Daten innerhalb von sechs Monaten durchzuführen und bis dahin nicht kategorisierte Daten zu löschen. Für davor übermittelte Daten gewährt der EDSB Europol eine Übergangsfrist von 12 Monaten. Europol hat angekündigt, sich mit seinen Direktoren zu beraten und die Anordnung zu prüfen.

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