EiÜ 03/2022
Streit um Rechtsstaatlichkeit in Rumänien geht in die nächste Runde – EuGH
Generalanwalt Collins hat in seinen Schlussanträgen vom 20. Januar 2022 in der Rechtssache C-430/21 den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit betont. Das Vorlageverfahren drehte sich erneut (vgl. zuletzt EiÜ 31/20) um die spezialisierte Staatsanwaltschaft zur Untersuchung von Straftaten innerhalb der rumänische Justiz (AUSJ). Deren Einrichtung hatte der EuGH u.a. in der Rs. C-83/19 – vorbehaltlich einer Überprüfung des vorlegenden Gerichts – für unionsrechtswidrig erklärt. Ungeachtet dieses EuGH-Urteils hatte der rumänische Verfassungsgerichtshof entschieden, dass die Vorschriften über die AUSJ verfassungsgemäß und daher weiterhin anwendbar seien. Die Nichtbeachtung dieser Rechtsprechung kann nach rumänischem Recht die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen die erkennenden Richter zur Folge haben. Nach der Argumentation des Generalanwalts verstößt diese Rechtslage gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit aus Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Grundrechtecharta. Die Schlussanträge der Generalanwält:innen sind für den EuGH nicht bindend. Das Urteil des EuGH wird in wenigen Monaten erwartet.
Fluggastdatenrichtlinie wohl größtenteils unionsrechtskonform – EuGH
Die Fluggastdatenrichtlinie (EU) 2016/681 ist nach Ansicht des Generalanwalts Pitruzzella in seinen Schlussanträgen zur Rs. C-817/19 (in Französisch) vom 27. Januar 2022 im Wesentlichen unionsrechtskonform. Hintergrund des Rechtsstreits ist eine Nichtigkeitsklage der Menschenrechtsorganisation Ligue des droits humains gegen das belgische Umsetzungsgesetz zur Fluggastdatenrichtlinie (EU) 2016/681 vor dem belgischen Verfassungsgerichtshof. Dieser legte dem EuGH insgesamt 10 Vorlagefragen, u.a. zur Gültigkeit der Richtlinie, vor. Die Fluggastdatenrichtlinie (EU) 2016/681 regelt die Verarbeitung einer großen Anzahl von Fluggastdaten bei der Ein- und Ausreise aus der Europäischen Union zum Zwecke der Terrorismusbekämpfung. Der Generalanwalt argumentiert, dass die nach der Richtlinie vorgesehenen Eingriffsbefugnisse – zum Teil in grundrechtskonformer Auslegung – im Einklang mit Artikel 7 und 8 der Grundrechtecharta stünden. Dabei wahre die Richtlinie (EU) 2016/681 auch die Anforderungen, die der EuGH im Zusammenhang mit seiner Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung aufgestellt hat (vgl. EiÜ 33/20). Sie sei allerdings teilweise ungültig, insoweit sie den Anforderungen der Grundrechtecharta in Bezug auf Klarheit und Bestimmtheit nicht genüge. Dies betreffe namentlich die in Anhang I Nr. 12 der Richtlinie (EU) 2016/681 in der Rubrik „allgemeine Hinweise“ genannten Daten. Diese Daten dürften daher nicht erhoben werden.
Digital Services Act nimmt nächste Hürde – EP
In der Plenarsitzung in Straßburg hat das EU-Parlament am 20. Januar 2022 seinen Bericht zum Digital Services Act (DSA) mit zahlreichen Änderungen zum ursprünglichen Verordnungsvorschlag der EU-Kommission angenommen (vgl. u.a. EiÜ 40/21, 37/21, 18/21, 1/21). Gezielte Werbung, bei der personenbezogene Daten Minderjähriger oder sensible Daten i.S.v. Art. 9 Abs. 1 DSGVO verarbeitet werden, soll verboten werden. Auch der Einsatz sogenannter „dark patterns“ soll künftig unzulässig sein. Darunter sind Darstellungen zu verstehen, die darauf abzielen, Nutzer in ihrer autonomen, freien und informierten Entscheidung beeinflussen, etwa bei der Zustimmung zur Datenverarbeitung oder beim Kauf von Produkten oder Dienstleistungen. Eine Medienausnahme, wonach redaktionelle Inhalte von den Plattformbetreibern nicht hätten gelöscht werden dürfen, wurde dagegen abgelehnt. Das erste Treffen für die nun folgenden interinstitutionellen Verhandlungen zwischen EU-Parlament, Rat und Kommission findet bereits am 31. Januar 2022 statt.
Arbeiten im EU-Parlament zum KI-Vorschlag nehmen Fahrt auf – EP
Die parlamentarische Prüfung des Verordnungsvorschlags der EU-Kommission zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz hat begonnen (vgl. EiÜ 37/21, 14/21). Neben dem Binnenmarktausschuss (IMCO) ist nun auch der Innenausschuss (LIBE) an der Ausarbeitung des Parlamentsberichts beteiligt. Am 25. Januar 2022 erfolgte ein erster Meinungsaustausch zwischen den zuständigen Abgeordneten und der EU-Kommission. Schwerpunkte der gemeinsamen Diskussion waren u.a. die Ausnahmen vom Verbot von biometrischer Überwachung, die Unvoreingenommenheit der Algorithmen und die Vermeidung von Überregulierung. Der DAV hat in seiner Stellungnahme Nr. 57/21 u.a. gefordert, dass die Grundrechte und Grundwerte der Anwaltschaft im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz gewahrt bleiben müssen, ohne die Innovationsfreundlichkeit zu beinträchtigen. Im nächsten Schritt werden die beiden beteiligten Ausschüsse einen Entwurf des Parlamentsberichts vorlegen, über den bereits im Frühjahr abgestimmt werden soll.
Anti-Geldwäsche-Richtlinie teilweise ungültig? – EuGH
Generalanwalt Pitruzzella hält die Richtlinie (EU) 2015/849 („Antigeldwäsche-RL“) in seinen Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen C-37/20 und C-601/20 vom 20.01.2022 (in Französisch) für teilweise ungültig. Die Richtlinie (EU) 2015/849, geändert durch die Richtlinie (EU) 2018/843 bezweckt die Verhinderung von Geldwäsche und terroristischen Aktivitäten. Hierzu sieht sie u.a. Offenlegungspflichten zum wirtschaftlichen Eigentümer von Gesellschaften oder sonstigen juristischen Personen vor. Nach Ansicht des Generalanwalts ist Art. 30 Abs. 5 der Richtlinie (EU) 2015/849 teilweise unionsrechtswidrig. Es verstoße gegen EU-Recht, dass diese Vorschrift die Mitgliedstaaten verpflichte, die in der Richtlinie vorgesehenen Daten von Unternehmensinhabern der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und den Mitgliedstaaten darüber hinaus gestatte, noch weitergehende Offenlegungsvorschriften vorzusehen. Der EU-Gesetzgeber sei nach Auffassung des Generalanwalts seiner im Hinblick auf die betroffenen Grundrechte (hier insbesondere Art. 7 und 8 der Grundrechtecharta) bestehenden Verpflichtung, Art und Reichweite der betroffenen personenbezogenen Daten eindeutig zu bestimmen, damit nur teilweise nachgekommen. Darüber müsse Art. 30 Abs. 9 der Richtlinie (EU) 2015/849 grundrechtskonform ausgelegt werden. Es bestehe nicht nur die Möglichkeit, sondern eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, in besonderen Umständen Ausnahmen vom Informationszugang zuzulassen.
Schengener Grenzkodex: einheitliche Regeln für Grenzschließungen – KOM/EP
Die Europäische Kommission hat in der Sitzung des Innenausschusses des EU-Parlaments (LIBE) vom 26. Januar 2022 ihren Verordnungsvorschlag (in Englisch) zur Änderung des Schengener Grenzkodexes sowie der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG vorgestellt. Handlungsbedarf sieht die Kommission vor dem Hintergrund, dass einzelne Mitgliedstaaten u.a. im Zuge der sog. Flüchtlingskrise von 2015 und der Corona-Pandemie im Hinblick auf terroristische Bedrohungen erneut Grenzkontrollen eingeführt hatten bzw. haben. Der Vorschlag sieht insbesondere die Einführung mehrerer sog. Schutzmechanismen vor: eine Regelung für eine einheitliche Anwendung von Einreisebeschränkungen an den Außengrenzen aus Anlass von Krankheiten mit epidemischen Potenzial (Art. 21a), einen Rückführungsmechanismus in Bezug auf Drittstaatsangehörige bei grenzüberschreitender polizeilicher Zusammenarbeit (Art. 23a) sowie einen Reaktionsmechanismus auf eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder innere Sicherheit in einer Vielzahl von Mitgliedstaaten (Art. 28). In der anschließenden Fragerunde wurde seitens einzelner Ausschussmitglieder u.a. kritisiert, dass der Vorschlag bestehende Verletzungen des Schengenregimes durch einzelne Mitgliedstaaten legalisiere und keine ausreichenden Garantien zur Verhinderung von sog. push-backs vorsehe. EU-Parlament und der Rat müssen nun ihre jeweiligen Verhandlungspositionen zum Vorschlag der EU-Kommission festlegen.
Berufsgeheimnisverletzung bei verdeckter Überwachung in Bulgarien – EGMR
Am 11. Januar 2022 urteilte der EGMR (Beschwerde Nr. 70078/12; in Englisch), dass die bulgarischen Regelungen zu verdeckten Überwachungen von Beschuldigten gegen das Recht auf Privatsphäre nach Art. 8 EMRK verstoßen. Auch die Regelungen zur Speicherung und zum Zugriff auf die hierdurch erlangten Daten genügen nach dem EGMR den Anforderungen des Art. 8 EMRK nicht. Die Beschwerdeführer sind Anwälte, die – ohne selbst überwacht worden zu sein – im Wesentlichen vorbrachten, dass das bulgarische Recht keine ausreichenden Sicherungsmechanismen gegen willkürliche und missbräuchliche Überwachungspraktiken vorsehe. Der EGMR folgte dieser Argumentation weitgehend. Er beanstandete u.a., dass die Entscheidungen, die Überwachungsmaßnahmen anordnen, nicht ausreichend kontrolliert würden und dass keine effektiven Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidungen bestünden. Gleiches gelte für die durch die Überwachungsmaßnahmen erlangten Daten. Diese könnten deswegen zu missbräuchlichen Zwecken verwendet werden. Zudem würden die von den Überwachungsmaßnahmen betroffenen Personen nicht hinreichend über die durchgeführten Maßnahmen informiert. Der EGMR hebt außerdem hervor, dass der Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses unzureichend sei und dass die Unabhängigkeit der zuständigen Aufsichtsbehörde nicht garantiert werden könne.
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