Europa im Überblick, 04/2022

EiÜ 04/2022

Deckelung von Anwaltshonoraren erfordert gesetzliche Grundlage – EGMR

Mit Urteil vom 15. Januar 2022 (Beschwerde Nr. 54780/15, u.a., in Französisch) hat der EGMR entschieden, dass die Deckelung von Anwaltshonoraren in einem rumänischen Strafverfahren die Eigentumsgarantie nach Art. 1 des Zusatzprotokolls 1 zur EMRK verletzt. Die drei Beschwerdeführer:innen waren einer Gesamtzahl von 6871 Nebenkläger:innen beigeordnet worden. Nach Abschluss des Verfahrens machten sie Gebührenansprüche in Höhe von umgerechnet 34 Euro pro vertretener Partei geltend. Dadurch ergaben sich Gesamtforderungen von umgerechnet rund 100.000 Euro pro Beschwerdeführer:in gegen die Staatskasse. Während das in der Hauptsache zuständige erstinstanzliche Strafgericht die Forderungen als berechtigt ansah, setzte das zweitinstanzliche Gericht auf Beschwerde des rumänischen Finanzministeriums den von der Staatskasse an die Anwält:innen zu zahlenden Betrag auf umgerechnet 5.681 Euro pro Person herab. Nach Auffassung des EGMR stellt dies eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung der Eigentumsgarantie der Beschwerdeführer:innen dar. Der EGMR begründet dies im Wesentlichen damit, dass das in zeitlicher Hinsicht maßgebliche innerstaatliche Recht von einem Mindesthonorar von umgerechnet 34 Euro pro vertretener Partei ausgehe und keine Deckelung vorsehe. Es fehle daher an einer hinreichend präzisen und vorhersehbaren Rechtsgrundlage, um die Beeinträchtigung der Eigentumsfreiheit zu rechtfertigen.

Polen: Mängel im Justizsystem erneut bestätigt – EGMR

Der EGMR hat mit Urteil vom 03. Februar 2022 (Beschwerde Nr. 1469/20; in Englisch) erneut festgestellt, dass das Oberste polnische Gericht nicht den Anforderungen des Art. 6 EMRK genügt. Die Beschwerdeführerin hatte den polnischen Staat auf Schadensersatz in Anspruch genommen, wobei ihre Klage letztinstanzlich von der Zivilkammer des Obersten polnischen Gerichts abgewiesen wurde. Der EGMR gab der Beschwerde gegen dieses Urteil im Wesentlichen statt. Bei der Zivilkammer des Obersten Gerichts handele es sich nicht um ein „auf Gesetz beruhendes Gericht“ i.S.v. Art. 6 (1) EMRK. Die Ernennung der Mitglieder:innen des Obersten Gerichts auf Vorschlag des Landesjustizrates sowie unter Missachtung einer einstweiligen Anordnung des Obersten Verwaltungsgerichts verstoße offensichtlich gegen nationales polnisches Recht. Diese Verstöße seien von einem solchen Gewicht, dass hierdurch die grundlegenden Verfahrensregeln für die Ernennung von Richter:innen beeinträchtigt worden seien. Zudem sei nach nationalem Recht keine effektive Kontrolle dieser Verfahrensregeln möglich. Das Urteil fügt sich in eine Vielzahl von Entscheidungen des EuGH und EGMR ein, die dem polnischen Justizsystem tiefgreifende rechtsstaatliche Mängel bescheinigen (vgl. u.a. EiÜ 35/21; 31/21; 25/21). Die Fortsetzung des polnischen Rechtsstaatlichkeitskonflikts mit der EU und dem EGMR folgt spätestens am 16. Februar 2022. Dann wird der EuGH in den Rechtssachen C-156/21 und C-157/21 entscheiden, ob der sog. Konditionalitätsmechanismus rechtmäßig ist (vgl. EiÜ 38/21; 32/21; 38/20).

Normungsstrategie: Harmonisierung von Dienstleistungen weiter unklar - KOM

Die Kommission hat am 02. Februar 2022 eine EU-Strategie für Normung vorgestellt. Neben der Strategie wurden ein Vorschlag zur Änderung der Verordnung 1025/2012/EU, ein Bericht (in Englisch) über die bisherige Umsetzung der Verordnung sowie ein Arbeitsprogramm der Kommission für das Jahr 2022 (in Englisch) veröffentlicht. Bei sog. harmonisierten Normen handelt es sich um europäische Standards, die im Auftrag der EU-Kommission von einer anerkannten europäischen Normenorganisation (kurz: ENOs) entwickelt werden. Mithilfe dieser Normen sollen Wettbewerbsvorteile für Unternehmen kreiert werden, indem ihnen u.a. der Nachweis erleichtert wird, dass sie im Einklang mit EU-Recht handeln. Die Strategie sieht die Gründung eines neuen EU-Exzellenzzentrums vor. Dieses soll das vorhandene Fachwissen zur Normung bündeln, um z.B. Forderungen des öffentlichen Sektors nach Leitlinien in Bereichen wie eID und elektronische Behördendienste nachzukommen. Ferner soll der Einfluss von Akteuren aus Nicht-EU/EWR-Staaten in den ENOs zurückgedrängt und die Position der nationalen Normungsorganisationen gestärkt werden. Beim Fortschritt bzgl. der Normung von Unternehmensdienstleistungen (vgl. EiÜ 16/21) zeigt sich die EU-Kommission unzufrieden, weil es hier nur langsam vorangehe. Konkrete Forderungen zu neuen, potentiell die Anwaltschaft betreffenden Normen werden jedoch nicht angeführt.

Debatte über Brieftaschen für die digitale europäische Identität – EP

In der Sitzung des ITRE-Ausschusses des EU-Parlaments vom 3. Februar 2022 wurde die Einführung der sog. digitalen Brieftasche für die europäische digitale Identität (eID) diskutiert. Hintergrund ist der Verordnungsvorschlag der EU-Kommission zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 und der Schaffung eines Rahmens für eine eID (vgl. EiÜ 21/21). Mithilfe der eID sollen Online-Dienste genutzt werden können, ohne dabei auf private Identifizierungsmethoden angewiesen zu sein und nicht notwendige personenbezogene Daten weitergeben zu müssen. Der Europäische Datenschutzbeauftragte Wojciech Wiewiorowski sieht in der eID durchaus Chancen für den Schutz personenbezogener Daten und die Privatsphäre. Es müsse jedoch darauf geachtet werden, dass die eID nicht zum „Ende der Anonymität im Internet“ führe. In der Sitzung wurde darüber hinaus Kritik daran geäußert, dass wichtige Bestimmungen zur Umsetzung und Anwendung der eID im Verordnungsvorschlag selbst fehlten und dadurch auf zahlreiche von der Kommission zu erlassende Durchführungsrechtsakte verlagert würden. Zweifel am Vorschlag wurden auch im Hinblick darauf geäußert, dass die Verfassungen einiger Mitgliedstaaten – so auch das deutsche GG – der Einführung der eID entgegenstünden. Im nächsten Schritt wird der Ausschuss nun einen Berichtsentwurf zur Verhandlungsposition des EU-Parlaments erarbeiten.

2. Zusatzprotokoll zur Budapest Konvention steht kurz vor Ratifizierung - EP

Der LIBE-Ausschuss des EU-Parlaments hat in seiner Sitzung vom 31. Januar 2022 die EU-Kommission zu einem Vorschlag für einen Ratsbeschluss zum 2. Zusatzprotokoll der Budapest Konvention des Europarats (in Englisch) befragt. Der Ratsbeschluss ist erforderlich, um den Mitgliedsstaaten die für ab März 2022 geplante Unterzeichnung des Protokolls zu erlauben. Das Protokoll ermöglicht Strafverfolgungsbehörden u.a. die direkte Abfrage von Verkehrs- und Computerdaten bei Diensteanbieter:innen im Ausland und gemeinsame Ermittlungen auch per Videokonferenz (vgl. EiÜ 20/21). Zum Schutz der Grundrechte enthält es auch Datenschutzregelungen, u.a. zur Zweckbindung und Speicherung von Daten und zu Betroffenenrechten. Die Reglungen gelten aber dann nicht, wenn zwischen einzelnen Vertragsstaaten bereits umfassende bilaterale Vereinbarungen zum Datenschutz bestehen. Das betrifft z.B. das Rahmenabkommen zwischen der EU und den USA. Die Bedenken einiger Parlamentarier, dass der Datenaustausch von Ländern mit niedrigeren Datenschutzstandards missbraucht werden könne, wies die EU-Kommission zurück. Sie argumentierte, dass die Anwendung des Protokolls vom Ausschuss für das Übereinkommen über Computerkriminalität, der aus den Mitgliedstaaten der Budapest Konvention besteht, überwacht werde. Zudem könne der Datentransfer bei systematischen oder schwerwiegenden Verstößen gegen die im Protokoll festgelegten Garantien einseitig ausgesetzt werden.

Europäische Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen – KOM

Die EU-Kommission hat am 26. Januar 2022 den Entwurf einer europäischen Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade veröffentlicht. Ziel der Erklärung ist, dass die Werte der EU und die bestehenden persönlichen Rechte und Freiheiten des/r Einzelnen, nicht nur offline, sondern auch online geachtet und durchgesetzt werden. Sie baut auf der am 9. März 2021 veröffentlichten Mitteilung über den digitalen Kompass auf und soll den Weg in ein digitales europäisches Jahrzehnt ebnen (vgl. auch EiÜ 19/21; 09/21). Ein Schwerpunkt des Erklärungsentwurfs liegt auf dem Schutz der Privatsphäre und der individuellen Kontrolle von Daten. Konkret genannt wird ein Recht auf die Vertraulichkeit der Kommunikation und die Unzulässigkeit unrechtmäßiger Online-Überwachung. Weitere Aspekte sind u.a. der flächendeckende Zugang zu digitaler Infrastruktur sowie die Gewährleistung einer sicheren, solidarischen und fairen Online-Welt. Als politische Absichtserklärung soll die Erklärung keine einklagbaren Rechte des/r Einzelnen enthalten. Sie soll jedoch eine Richtlinie für öffentliche Verwaltungen und politische Entscheidungsträger:innen, aber auch für Bürger:innen sowie Akteur:innen in Industrie und Wirtschaft darstellen. Über den Erklärungsentwurf muss als nächstes im EU-Parlament und im Rat beraten und abgestimmt werden.

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