Europa im Überblick, 05/2022

EiÜ 05/2022

Polen: Disziplinarkammer darf vorerst nicht weiter tätig werden – EGMR

Ausweislich einer Pressemitteilung (in Englisch) hat der EGMR am 08. Februar 2022 Polen im Wege einer einstweiligen Anordnung dazu aufgefordert, sicherzustellen, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts bis zu einer Entscheidung des EGMR in der Hauptsache nicht über die Aufhebung der Immunität eines polnischen Richters entscheiden darf (Beschwerde Nr. 6904/22). Der Beschwerdeführer ist Richter am Obersten Gericht und Co-Autor einer Resolution des Obersten Gerichts, die der Disziplinarkammer absprach, ein „unabhängiges, auf Gesetz beruhendes Gericht“ zu sein. Gegen ihn ist ein Verfahren vor der Disziplinarkammer wegen „krimineller Nachlässigkeit“ beim Abfassen eines Gerichtsurteils anhängig, das den Entzug seiner Immunität zur Folge haben könnte. Nach dem EGMR muss dieses Verfahren nun ausgesetzt werden, bis der EGMR darüber entschieden hat, ob das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 EMRK im vorliegenden Fall gewahrt ist. Der EGMR erlässt solche einstweilige Anordnungen nur ausnahmsweise bei unmittelbarer Gefahr eines irreparablen Schadens für die Beschwerdeführer:innen. Auch der EuGH hat Polen bereits mehrfach dazu aufgefordert, die Tätigkeit der Disziplinarkammer einzustellen (vgl. EiÜ 25/21; 14/20). Diesen Aufforderungen ist Polen bislang nicht nachgekommen.

Rechtsstaatlichkeitsbericht soll konkretere Empfehlungen aussprechen – EP

Der Innenausschuss (LIBE) des EU-Parlaments hat am 7. Februar 2022 über einen Berichtsentwurf des Parlaments im Hinblick auf den Rechtsstaatlichkeitsbericht für das Jahr 2022 debattiert. In den Rechtsstaatlichkeitsbericht werden die neuesten Entwicklungen im Bereich Rechtsstaatlichkeit in der EU und in den einzelnen Mitgliedsstaaten aufgenommen. Er wird seit 2020 jährlich von der EU-Kommission veröffentlicht (vgl. EiÜ 25/21, 32/20). Der LIBE-Ausschuss begrüßte zwar die von der EU-Kommission für den Rechtsstaatlichkeitsbericht 2022 angekündigte Aufnahme von länderspezifischen Handlungsempfehlungen (vgl. 28/21). Der Ausschuss forderte die EU-Kommission jedoch auch auf, konkrete Zielvorgaben, Umsetzungsfristen und Konsequenzen bei fehlender Behebung von Mängeln zu benennen. Ferner müsse der Rechtsstaatlichkeitsbericht erkennen lassen, ob schwere oder systemische Rechtsstaatlichkeitsmängel in einem Mitgliedstaat gegeben sind. Der DAV hat sich bereits zur Rechtsstaatlichkeitssituation in Deutschland geäußert und u.a. die schleppende Digitalisierung der Justiz kritisiert (vgl. Stellungnahme Nr. 02/2022, in Englisch). Der Bericht des EU-Parlaments ist für die EU-Kommission nicht bindend.

Europol-VO: Kriminalitätsbekämpfung schlägt Grundrechtschutz? – EP/Rat

Das EU-Parlament hat sich am 1. Februar 2022 mit dem Rat vorläufig über eine neue Europol-Verordnung geeinigt (vgl. die Pressemitteilung des Rates) Der Kompromissvorschlag wurde am 07. Februar 2022 im Innenausschuss (LIBE) des EU-Parlaments vorgestellt. Die überarbeitete Verordnung soll Europol insb. die Zusammenarbeit mit privaten Unternehmen und die Auswertung von großen Datenmengen ermöglichen (vgl. EiÜ 32/21; 42/20). Zudem soll Europol Ausschreibungen in das Schengener-Infosystem (SIS) vornehmen können. Der DAV hat bereits mit Blick auf den ursprünglichen Verordnungsvorschlag der EU-Kommission tiefgreifende Besorgnis in Bezug auf die Gewährleistung des Grundrechtsschutzes, insb. bei der Verarbeitung von Daten, geäußert (vgl. DAV-Stellungnahme Nr. 31/2021). Der Kompromissvorschlag sieht zwar eine Reihe von Schutzmechanismen wie etwa die Einsetzung eines/r Grundrechtsbeauftragten oder die Beschränkung der Dauer der zulässigen Datenspeicherung auf 18 Monate vor. Er bleibt jedoch weit hinter dem vom DAV geforderten Schutzniveau zurück. Auch im EU-Parlament stieß der Vorschlag mitunter auf Kritik, beispielweise mit Blick darauf, dass Europol potentiell diskriminierende Technologien zur Datenanalyse nutzen könne. Der Vorschlag muss nun vor Einleitung des förmlichen Annahmeverfahrens von Rat und EU-Parlament gebilligt werden.

Innenausschuss diskutiert über politisch motivierte Interpol-Rotecken – EP

Am 07. Februar 2022 hat sich der Innenausschuss (LIBE) mit einer Studie (in Englisch) über den Schutz von Unionsbürger:innen vor politisch motivierten Rotecken (engl. Red Notices) befasst. Rotecken bezeichnen weltweite Ersuchen zwischen Interpol-Staaten, um eine Person wegen einer schweren Straftat bis zur Auslieferung vorläufig festzunehmen. Interpol darf Rotecken nicht zirkulieren, wenn die ersuchenden Staaten Menschenrechtsverletzungen begehen. Hierzu werden interne Kontrollen durch Interpol durchgeführt. Die Zahl der Rotecken ist in den vergangen Jahren deutlich gestiegen. Trotz erfolgter Reformen bei Interpol bezweifelt die Studie deshalb, dass Interpol über genügend Ressourcen verfügt, um eine effektive Missbrauchsprüfung durchzuführen. Das habe z.B. zur Folge, dass Unionsbürger:innen an autoritäre Staaten ausgeliefert werden können, die die Rotecken zur Verfolgung politischer Gegner:innen und Regimekritiker:innen missbrauchen. Aufgrund mangelnder Daten sei die Behandlung der Rotecken in den einzelnen Staaten zudem intransparent. Die Studie empfiehlt daher u.a., dass den Behörden der EU-Mitgliedsstaaten Leitlinien zur Bearbeitung von Rotecken zur Verfügung gestellt werden. Diese Leitlinien solle die EU-Kommission ferner zum Gegenstand der laufenden Verhandlungen über das EU-Interpol-Abkommen machen, das Bestandteil der Strategie zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität ist (vgl. EiÜ 13/21).

KOM zur Rechtsstaatlichkeitsprüfung in Kartellverfahren verpflichtet – EuG

Das EuG hat am 09.Feburar 2022 in der Rs. T-791/19 die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeitsprüfung bei Europäischen Haftbefehlen (EHB) auf das Kartellrecht übertragen. Die Klägerin, ein polnisches Speditionsunternehmen, hatte bei der EU-Kommission Beschwerde eingelegt, weil ein vom polnischen Staat kontrolliertes Unternehmen es abgelehnt hatte, mit der Klägerin einen Vertrag über die Erbringung von Schienengüterverkehrsdiensten zu Marktbedingungen abzuschließen. Die EU-Kommission wies die Beschwerde mit der Begründung zurück, dass die polnische Wettbewerbsbehörde besser in der Lage sei, den behaupteten Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gem. Art. 102 AEUV zu prüfen. Das EuG beanstandete, dass die EU-Kommission vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Mängel in Polen nicht ausreichend geprüft habe, ob das Recht der Klägerin auf einen wirksamen Rechtsbehelf gem. Art. 47 der Grundrechtecharta gewahrt sei. Dabei müsse die EU-Kommission die aus dem europäischen Haftbefehlsrecht bekannte zweistufige Rechtsstaatlichkeitsprüfung anwenden (vgl. 40/21, 38/20 29/18). Auf der ersten Stufe müssten systemische oder allgemeine Mängel im Hinblick auf die Unabhängigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörde und der in diesem Bereich zuständigen nationalen Gerichte geprüft werden. Auf der zweiten Stufe müsse dann untersucht werden, ob die Klägerin  deswegen der Gefahr einer ernsthaften Rechtsverletzung ausgesetzt sei.

Regulierung von KI muss Rechtssicherheit schaffen – EP

Am 10. Februar 2022 fand die vorletzte Sitzung des Sonderausschusses zu Künstlicher Intelligenz im digitalen Zeitalter (AIDA) statt. Unter anderem wurde eine von AIDA in Auftrag gegebene Studie (in Englisch) zur Identifizierung und Bewertung von bestehenden und geplanten EU-Rechtsvorschriften im digitalen Bereich vorgestellt. Um Rechtssicherheit zu schaffen, sollte der KI-Vorschlag der EU-Kommission (vgl. EiÜ 37/21; 14/21 sowie DAV-Stellungnahme Nr. 57/2021) hiernach nicht nur auf andere Gesetzgebungsakte verweisen, sondern dafür sorgen, dass bestehende Widersprüche und Dopplungen aufgelöst werden. Obwohl der AIDA-Ausschuss dank seines nicht-legislativen Mandats oft kritisiert wurde, zeigt diese Studie, dass er sein Mandat – nämlich Künstliche Intelligenz aus einem bereichsübergreifenden Blickwinkel zu betrachten – durchaus erfolgreich ausgeübt hat (vgl. EiÜ 09/21).

Stellungnahme zu Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit – DAV

Der DAV-Ausschuss Arbeitsrecht hat sich in Stellungnahme 06/2022 zum Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit geäußert. Der Richtlinienvorschlag soll es Plattformbeschäftigten vereinfachen, Arbeitnehmer:innenrechte in Anspruch zu nehmen (vgl. EiÜ 01/22). Der DAV begrüßt den Richtlinienvorschlag, um gerade bei grenzüberschreitenden Sachverhalten einheitliche Regelungen zum Schutz der von Plattformarbeit betroffenen Beschäftigten zu schaffen. Nachbesserungsbedarf sieht der DAV u. a. bei den Kriterien, aus denen das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses abgeleitet werden soll, sowie bei der Einräumung und Durchsetzung von Rechten und Pflichten im Verhältnis zu den Vertreter:innen der Plattformbeschäftigten. Im nächsten Schritt wird das EU-Parlament seine Arbeit aufnehmen – als Berichterstatterin im federführenden Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) wurde Elisabetta Gualmini von der S&D-Fraktion ernannt.

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