EiÜ 07/2024
Digital Services Act: Geltung der Vorschriften für alle Online-Plattformen – EP
Das Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act) gilt seit dem 17. Februar 2024 in der gesamten EU (vgl. PM). Das im August 2023 in Kraft getretene Gesetz galt bisher nur für die benannten sehr großen Online-Plattformen und Suchmaschen, welche damit u.a. zur Bekämpfung illegaler Inhalte (s. zuletzt EiÜ 29/23; DAV Stellungnahme Nr. 34/2021) verpflichtet wurden. Welche Inhalte als illegal einzustufen sind, legt die Verordnung nicht fest. Die geregelten Pflichten treffen alle Online-Plattformen und –Vermittler sowie Hosting-Dienste mit Ausnahme der Klein- und Kleinstunternehmen, d.h. diejenigen mit weniger als 50 Arbeitnehmer:innen und einem Jahresumsatz von weniger als 10 Millionen Euro. Sie müssen bestimmte Schutz- sowie Transparenzmaßnahmen ergreifen, etwa den Nutzer:innen Informationen über die ihnen angezeigte Werbung sowie klare Geschäftsbedingungen zur Verfügung stellen. Mindestens einmal jährlich soll ein Bericht über die Verfahren zur Inhaltsmoderation veröffentlicht werden. Den Nutzer:innen steht ein Beschwerdemechanismus offen, über den sie Entscheidungen zur Inhaltsmoderation anfechten können. Nationale DSA-Koordinatoren dienen als zentrale Beschwerdestellen in den jeweiligen Mitgliedstaaten. Für die Einhaltung der Regelungen durch die sehr großen Online-Plattformen und mögliche Sanktionierung ist hingegen die EU-Kommission zuständig.
Mindesthonorare für Rechtsanwält:innen: Wettbewerbsbeschränkung? – EuGH
Mit Urteil in der Rs. C‑438/22 vom 25. Januar 2024 hat der EuGH in Fortsetzung seiner ebenfalls die bulgarischen Gebühren betreffenden Rechtsprechung (C-427/16 und C- 428/16) entschieden, dass ein nationales Gesetz, welches Vereinbarungen und die gerichtliche Kostenfestsetzung insoweit verbietet, als dadurch die durch einen Berufsverband per Verordnung festgesetzten Mindestgebühren unterschritten werden, als eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung unvereinbar mit Art. 101 Abs.1 AEUV i.V.m. Art. 4 Abs. 3 EUV ist. Der EuGH erklärte Art. 101 AEUV für anwendbar, da die nationale Kammer als Unternehmungsvereinigung i.S.v. Art. 101 AEUV tätig werde, wenn sie Verordnungen zur Festsetzung von Mindestgebühren erlässt. Neu im vorliegenden Fall ist allerdings die Beschränkung der Tragweite der Wouters-Rechtsprechung auf Verhaltensweisen, die lediglich potentiell die „Wirkung“ haben, den Wettbewerb einzuschränken. Verhaltensweisen, die annehmen lassen, dass sie gerade den „Zweck“ haben, den Wettbewerb einzuschränken, können nicht durch die Verfolgung legitimer Ziele gerechtfertigt werden. Eine durch einen Berufsverband festgesetzte Gebührenordnung mit Mindestgebühren stellt laut EuGH eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung i.S.v. Art. 101 Abs. 1 AEUV dar. Das RVG in Form eines Parlamentsgesetzes, durch das der Gesetzgeber seine Entscheidungsgewalt nicht Privaten überlässt und die praktische Wirksamkeit der Wettbewerbsregeln für Private nicht aufhebt, dürfte durch diese Rechtsprechung nicht betroffen sein.
Erweiterte Regeln für außergerichtlichen Verbraucherrechtsschutz – EP
Die Abgeordneten des EU-Parlamentsausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) haben am 22. Februar 2024 ihren Standpunkt hinsichtlich des Kommissionsvorschlags zur Änderung der Richtlinie 2023/11/EU über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten (ADR) angenommen, PM (vgl. bereits EiÜ 35/23). Bei Verbraucher:innen soll das Bewusstsein gestärkt werden, ohne gerichtliche Beteiligung Streitigkeiten gegen Unternehmen schnell und kostengünstig beilegen zu können. Hintergrund der Initiative war das Potential der seit 2013 nicht geänderten Richtlinie zur Stärkung des Verbraucherschutzes und Anpassung an die digitale Marktlandschaft. Unter anderem sollen Gewerbetreibende dazu verpflichtet werden, Information zu alternativer Streitbeilgegung und zuständiger Stellen gut sichtbar bereitzustellen. Zusätzlich soll die Bündelung ähnlich gelagerter Fälle möglich sein, sofern die Verbraucherin/ der Verbraucher sein Einverständnis erteilt. Die EU-Parlamentarier:innen fordern nun, dass das freiwillige ADR-Verfahren im Bereich der Fluggastrechte aufgrund hoher Fallzahlen für Luftfahrtunternehmen verpflichtend wird. Zudem sollen die ADR-Stellen nicht nur die Ergebnisse der Verfahren nachhalten, sondern auch Gewerbetreibende erfassen, die sich weigern, Entscheidungen der zuständigen Stellen nachzukommen. Der Text wird nun Gegenstand der Plenarsitzung des EU-Parlaments im April 2024 sein, bei der der Bericht als Verhandlungsmandat des Parlaments angenommen werden soll.
Genereller Zugriff auf verschlüsselte Kommunikation verletzt EMRK – EGMR
Eine Regelung, die nationalen Behörden einen generellen und unzureichend abgesicherten Zugriff auf Inhalte der Internetkommunikation ermöglicht, verstößt gegen Art. 8 EMRK. Dies geht aus dem Urteil (in Englisch) des EGMR vom 13. Februar 2024 hervor. Ein Nutzer des Kommunikationsdienstes „Telegram“ machte eine Verletzung des Rechts auf Achtung der Privatsphäre geltend. Nach russischem Recht sind Unternehmen verpflichtet, Kommunikationsdaten für die Dauer eines Jahres und die Inhalte sechs Monate lang zu speichern sowie u. U. an Behörden weiterzuleiten. Der Föderale Sicherheitsdienst (FSS) ordnete zur Bekämpfung terrorismusbezogener Aktivitäten gegenüber „Telegram“ zusätzlich die Übermittlung der Verschlüsselungscodes an. Der EGMR erkannte zunächst den Schutz der nationalen Sicherheit als legitimen Zweck. Es liege aber eine sehr weitreichende Regelung ohne Einschränkungen oder Umgrenzung der Daten vor. Der FSS könne insbesondere unter Umgehung eines Autorisierungsverfahrens verdachtsunabhängig auf die gesamte Kommunikation zugreifen. Da keine angemessenen Garantien gegen Missbrauch und Absicherungen wie die richterliche Genehmigung bestehen, sei die Regelung unverhältnismäßig. Es drohe mit einer Schwächung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung eine ernsthafte Gefährdung der Sicherheit der elektronischen Kommunikation aller Nutzer.
Neues Produkthaftungsrecht kurz vor Abschluss – EP
Der Binnenmarktausschuss (IMCO) und der Rechtsausschuss (JURI) des EU-Parlaments haben in einer gemeinsamen Sitzung vom 22. Februar 2024 (JURI) die zur Produkthaftungsrichtlinie gefundene politische Einigung (abrufbar hier, in Englisch) gebilligt. Damit steht dem Inkrafttreten des neuen Rechtsrahmens, der die bisherige Produkthaftungsrichtlinie ablöst, lediglich dessen formelle Annahme bevor. Die Produkthaftungsrichtlinie wird unter gewissen Voraussetzungen das Eingreifen einer Vermutung für das Vorliegen eines Produktfehlers sowie zur Beweislasterleichterung hinsichtlich der Ursächlichkeit von Produktfehler und Schaden vorsehen, vgl. bereits EiÜ 43/23. Ferner ist unter bestimmten Voraussetzungen eine prozessuale Verpflichtung zur Vorlage von Beweismitteln vorgesehen. Auch Software wird nunmehr durch den Produktbegriff erfasst, wobei Open-Source-Software, die außerhalb einer gewerblichen Tätigkeit entwickelt wurde, ausgenommen ist. Der DAV hatte in seiner Stellungnahme 71/22 davor gewarnt, dass mit der Anwendung der neuen Regelungen auf gänzlich alle Produkte insbesondere im Hinblick auf die geschaffenen Fehler- und Kausalitätsvermutungen die prozessuale Waffengleichheit nicht mehr gewahrt sein könnte, vgl. hierzu auch EiÜ 43/22.
Konsultation: Zustellung von Schriftstücken im Rahmen von e-CODEX – KOM
Die EU-Kommission hat am 13. Februar 2024 eine öffentliche Konsultation zum Entwurf über eine Änderung der Durchführungsverordnung hinsichtlich des dezentralen IT-Systems für die grenzüberschreitende Zustellung von rechtserheblichen Schriftstücken gestartet. Grundsätzlich besteht das dezentrale IT-System aus den Back-End-Systemen der Mitgliedstaaten, die durch interoperable Zugangspunkte miteinander verbunden sind und so den Datenaustausch in Zivil- oder Handelssachen von einem Mitgliedstaat zum anderen ermöglicht. Die Zugangspunkte sollen den technischen Spezifikationen gemäß auf der unionseigenen e-CODEX Infrastruktur basieren. Eine Änderung betrifft nun die Klarstellung, dass die Zugangspunkte im Einklang mit den Bestimmungen der e-CODEX Verordnung betrieben werden sollen. Der Entwurf sieht ferner eine Neuerung dahingehend vor, dass die bestehende Zusammenarbeit bei der Zustellung von Schriftstücken im Rahmen internationaler Vereinbarungen zwischen der EU und den EU-Mitgliedstaaten, die nicht durch die Verordnung über die Zustellung von Schriftstücken gebunden sind, innerhalb des rechtlichen Rahmens der e-CODEX Verordnung fortgesetzt werden kann. Bis zum 12. März 2024 ist die Teilnahme an der öffentlichen Konsultation möglich.
Kindererziehungszeiten in anderem Mitgliedstaat zu berücksichtigen – EuGH
Mit seinem Urteil vom 22. Februar 2024 stellte der EuGH fest, dass bei der Berechnung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Erziehungszeiten zu berücksichtigen sind (vgl. PM). Der Rs. C-283/21 lag die Vorlage des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen zugrunde, das über einen Rechtsstreit zwischen der Klägerin und der Deutschen Rentenversicherung Bund zu befinden hat. Erstere hat ihre Kinder in den Niederlanden aufgezogen, ohne dort einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Beiträge zur deutschen Rentenversicherung während ihrer vorhergehenden Ausbildung sowie späteren beruflichen Tätigkeit in Deutschland hat sie nicht gezahlt. Damit stand die Berücksichtigung der Erziehungszeit in Frage, da die Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit nach dem einschlägigen Art. 44 Abs. 2 der Verordnung zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit nicht erfüllt wurde. Laut EuGH folgt jedoch aus Art. 21 AEUV (Recht auf Freizügigkeit) die Pflicht, im EU-Ausland erfolgte Erziehungszeiten zu berücksichtigen, soweit eine hinreichende Verbindung zu den im Versicherungssystem zurückgelegten Zeiten besteht. Dies sei etwa der Fall bei Ausbildungs- oder Beschäftigungszeiten ausschließlich im leistungspflichtigen Mitgliedstaat, ungeachtet einer fehlenden Entrichtung von Beiträgen.
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