EiÜ 09/2022
Interinstitutionelle Verhandlungen zu E-Evidence schreiten fort – Rat/DAV
Der Rat „Justiz und Inneres“ hat sich am 4. März 2022 einen Überblick über die laufenden interinstitutionellen Verhandlungen zum Verordnungsvorschlag über elektronische Beweismittel in Strafsachen (E-Evidence) verschafft (vgl. Pressemitteilung). In einem vom DAV mitgezeichneten Statement vom 4. März 2022 setzt sich der DAV für den im Dezember 2021 vorgelegten Kompromissvorschlag des EU-Parlaments ein, der allerdings nicht öffentlich verfügbar ist. Ein beständiger Kritikpunkt bleibt die Notifizierung. Der DAV fordert eine obligatorische Notifizierung für den Zugang zu Teilnehmerdaten, um die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu gewährleisten. Bereits zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens hat der DAV in seiner Stellungnahme Nr. 42/2018 grundsätzliche Kritik an dem E-Evidence-Vorhaben geäußert (vgl. EiÜ 41/20; 40/19; 13/19; 44/18). Sollte das EU-Parlament seine Position nicht durchsetzen können, drohen weitreichende Grundrechtsverstöße (vgl. die vom DAV mitgezeichnete Sammlung von Beispielen; EiÜ 33/21). Der DAV wird sich deshalb in den weiteren interinstitutionellen Verhandlungen dafür einsetzen, dass der Rat der Parlamentsposition folgt.
Europäisches Statut für die Anwaltschaft? – Rat
Im Rahmen der Tagung des Rates der EU „Justiz und Inneres“ am 3. und 4. März 2022 haben die Justizminister:Innen unter anderem die Notwendigkeit eines europäischen Statuts für den Rechtsanwaltsberuf diskutiert. Das Gespräch erfolgte auf Initiative des französischen Ratsvorsitzes und auf Grundlage eines entsprechenden Diskussionspapiers. Ziel ist es, gemeinsam Fortschritte beim Schutz des Berufsstands zu erarbeiten. Im Zentrum der Diskussion stand die Frage, ob ein europäisches Rechtsanwaltsstatut, das eine unabhängige Berufsausübung garantiert, über die bestehenden nationalen Regelungen hinaus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und zum Zugang zum Recht beitragen könnte. Hervorgehoben wurden auch die aktuellen Herausforderungen der Rechtsanwält:innen bei der Verteidigung der Rechtstaatlichkeit. Diese zeigen sich etwa in diversen Behinderungen bei der Berufsausübung oder gar in Bedrohungen. In der anschließenden Pressekonferenz betonte der vorsitzende französische Justizminister Dupond-Moretti die wesentliche Bedeutung der anwaltlichen Tätigkeit für den Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Auf der Grundlage der Diskussion könne die EU-Kommission das Thema verstärkt in ihrem jährlichen Rechtsstaatlichkeitsbericht berücksichtigen. Der Ratsvorsitz werde seine Überlegungen in dieser Angelegenheit zu möglichen weiteren Schritten fortführen. Der Rat könnte die EU-Kommission gemäß Art. 241 AEUV zum Gebrauch ihres gesetzgeberischen Initiativrechts auffordern.
Weltfrauentag: Richtlinie gegen geschlechtsspezifische Gewalt – KOM
Die EU-Kommission will Frauen, die Opfer von geschlechterspezifischer und häuslicher Gewalt wurden, in ihren Rechten stärken. Hierzu hat die EU-Kommission am Weltfrauentag (8. März) eine Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen sowie häuslicher Gewalt vorgeschlagen. Die neue Richtlinie stellt einen wichtigen Bestandteil der Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020-2025 dar. Das Schutzniveau, das die Istanbul-Konvention des Europarates vermittelt, soll nun europaweit gelten und zugleich angehoben werden. Lücken, die im digitalen Raum entstanden sind, sollen geschlossen werden. Wichtiger Teil des Richtlinienvorschlags ist die Schaffung einer einheitlichen Definition und die Kriminalisierung der Vergewaltigung (Art. 5) und der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen (Art. 6). Die vorgeschlagenen Regelungen zur Cyber-Gewalt, welche Cyber-Mobbing, Cyber-Stalking und die Verbreitung von intimen Bildern umfassen, sollen Frauen, aber auch Männer und nichtbinäre Personen schützen. Neben der Festlegung eines harmonisierten Strafrahmens, soll den Opfern durch längere Verjährungsfristen und umfangreiche Entschädigungsmöglichkeiten im Strafverfahren der Zugang zur Justiz erleichtert werden. Schließlich sollen die Mitgliedsstaaten ausreichende Informationen sowie einen einfachen Zugang zu Hilfsangeboten bereitstellen. Die vorgeschlagene Richtlinie wird als Nächstes sowohl dem Rat als auch dem Parlament zur Prüfung zugeleitet.
Neue Plattform zur Meldung von Verstößen gegen EU-Sanktionen – KOM
Die EU-Kommission hat Ende vergangener Woche eine Online-Plattform gestartet, die es Whistleblowern erleichtern soll, Verstöße gegen EU-Sanktionen zu melden. Mithilfe der Plattform sollen vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Verstöße gegen EU-Sanktionen auf anonyme Weise berichtet werden können und dadurch die Wirksamkeit der Sanktionen sichergestellt werden. Die Effektivität der über 40 Arten von EU-Sanktionen hängt naturgemäß davon ab, ob diese richtig umgesetzt werden, bzw. inwiefern Versuche, die Sanktionen zu umgehen, verhindert werden. Die EU-Kommission, die das Whistleblower-Tool verwaltet, hat sich verpflichtet, die Identität von Whistleblowern zu schützen, die persönliche Risiken eingehen, um Sanktionsverstöße zu melden. Fällt die Glaubwürdigkeitsprüfung der EU-Kommission positiv aus, teilt sie den anonymen Bericht und die Ergebnisse ihrer Untersuchung den zuständigen Behörden des jeweiligen Mitgliedstaats mit.
Mehrwertsteuersystem-Reform vom Parlament gebilligt – EP
Im besonderen Gesetzgebungsverfahren zur Änderung der Mehrwertsteuersystem-RL 2006/112/EG billigte das EU-Parlament per Beschluss vom 9. März 2022 einen vorher vom Rat verhandelten einstimmigen Kompromiss. Die Reform soll das Mehrwertsteuersystem in der EU vereinheitlichen. Ermäßigte Steuersätze auf umweltschädliche Güter dürfen danach spätestens ab dem 1. Januar 2030 bzw. 2032 nicht mehr angewandt werden. Das von der EU-Kommission in ihrem Vorschlag angestrebte Ziel eines endgültigen Mehrwertsteuersystems, das auf dem Prinzip der Besteuerung im Bestimmungsland beruht (vgl. EiÜ 34/15), ist jedoch nicht Teil des Kompromisses geworden. Auf bestimmte Rechtsdienstleistungen (z. B. für auf Vertragsbasis Beschäftigte und Arbeitslose in Arbeitsgerichtsverfahren) kann nun auch ein ermäßigter Steuersatz angewendet werden. Für einen gleichen und gerechten Zugang zum Recht wäre aber die möglichst breite Ausweitung dieser Ermäßigungen besonders wichtig. Nach der Zustimmung des EU-Parlaments und des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses kann der Rat nun die Richtlinie in der vom EU-Parlament gebilligten Fassung gem. Art. 113 AEUV erlassen.
Forderung nach rascher Anwendung des Konditionalitätsmechanismus – EP
In der Plenarsitzung vom 9. März 2022 befürwortete das EU-Parlament das EuGH-Urteil vom 16. Februar 2022 zum sog. Konditionalitätsmechanismus. Ein entsprechender Entschließungsantrag „zur Rechtsstaatlichkeit und den Konsequenzen des Urteils des EuGH“ der Fraktionen wurde mit deutlicher Mehrheit angenommen. Die Entschließungsanträge der ID-Fraktion sowie der Europäischen Konservativen wurden hingegen abgelehnt. Auf die Klagen von Polen und Ungarn gegen den sog. Konditionalitätsmechanismus hatte der EuGH mit Urteil vom 16. Februar 2022 dessen Rechtmäßigkeit festgestellt (vgl. EiÜ 06/22; 38/21). Damit wurde bestätigt, dass die EU die Gewährung von Haushaltsmitteln bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeitsgrundsätze der Union in den Mitgliedsstaaten versagen kann. In seiner Entschließung ruft das EU-Parlament auch die französische Ratspräsidentschaft auf, der Verpflichtung aus ihrem Programm (vgl. EiÜ 01/22) nachzukommen und sich entschlossen für ein „menschliches Europa“, also für die Rechtsstaatlichkeit und für den Grundrechtsschutz, einzusetzen. Der DAV fordert, dass die EU-Kommission im Anschluss an die letzte Woche erfolgte Veröffentlichung ihrer Leitlinien zur Konditionalitätsverordnung (vgl. EiÜ 08/22) schnellstmöglich von dem Mechanismus Gebrauch macht.
Urteil zu Abschiebehafteinrichtungen in Deutschland – EuGH
Der EuGH hat ein Urteil zu den an Abschiebehafteinrichtungen zu stellenden Anforderungen gefällt. Das Amtsgericht Hannover hatte in einem Vorabentscheidungsverfahren (Rs. C-519/29) den EuGH zur Auslegung des Begriffs „spezielle Hafteinrichtung“ sowie zur richterlichen Prüfungspflicht hinsichtlich der Voraussetzungen einer „außergewöhnlichen Situation“ im Sinne der Rückführungsrichtlinie ersucht, vgl. EiÜ 37/21). Nach Art. 18 der Rückführungsrichtlinie können die Mitgliedstaaten in einer Notlage von dem grundsätzlichen Erfordernis einer speziellen Hafteinrichtung abweichen und Drittstaatsangehörige in einer gewöhnlichen Haftanstalt inhaftieren. Entgegen des Schlussantrags Nr. 4 des Generalanwalts de la Tour stellte der EuGH klar, dass die konkrete Einrichtung in Hannover grundsätzlich eine „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie sein könne. In grundsätzlicherer Hinsicht stellte der EuGH aber klar, dass die nationalen Gerichte bei der Entscheidung über eine Inhaftnahme in einer gewöhnlichen Hafteinrichtung auch selbst prüfen (können) müssen, ob die nationale Rechtsvorschrift, aufgrund derer die Inhaftnahme erfolgt, mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den Voraussetzungen des Art. 18 der Rückführungsrichtlinie vereinbar ist. Eine „Notlage“, wie von Art. 18 der Rückführungsrichtlinie gefordert, dürfte in Deutschland nicht vorgelegen haben.
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