Europa im Überblick, 09/2023

EiÜ 09/2023

Insolvency III: Etwas Öffnung bitte – DAV

Der DAV hat zu dem Richtlinienentwurf der EU-Kommission zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts (Insolvency III) Stellung bezogen (Stellungnahme Nr. 13/2023). Der im Dezember 2022 veröffentlichte Vorschlag strebt die Angleichung der nationalen insolvenzrechtlichen Vorschriften an, um grenzüberschreitende Investitionen zu fördern (vgl. EiÜ 42/22). Neben Mindestanforderungen hinsichtlich der Insolvenzantragspflicht und der Gläubigerausschüsse regelt die Richtlinie u.a. ein sogenanntes Pre-pack-Verfahren: Demnach kann das Unternehmen des Schuldners als fortgeführtes Unternehmen in einem zweistufigen Verfahren veräußert werden. Der DAV hatte sich bereits im Rahmen einer öffentlichen Konsultation zu der Initiative geäußert (vgl. Stellungnahme Nr. 32/2021) und ihr Ziel, das Hindernis der Fragmentierung für den Kapitalmarkt abzubauen, begrüßt. Mit dem Ziel des Gläubigerschutzes fordert er die Schaffung von Öffnungsklauseln für die Mitgliedstaaten, soweit sie in den entsprechenden Richtlinienbereichen eigene effektive Verfahrenslösungen vorsehen. In der deutschen Rechtsordnung haben sich etwa die Regelungen zur Unternehmensveräußerung bewährt, sodass das Pre-pack-Verfahren die bestehenden nationalen Vorschriften nicht ersetzen, sondern als ein in-sich-geschlossenes-Modellverfahren eingeführt werden oder als ergänzende Regelung dienen sollte.

Rechtsprechungsstatistiken zum Jahr 2022 veröffentlicht – EuGH

Der Gerichtshof der EU hat am 3. März 2023 Statistiken zu seiner Rechtsprechungstätigkeit im Jahr 2022 veröffentlicht (vgl. PM). Diese bilden die Entwicklung sowohl beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) als auch beim Gericht der Europäischen Union (EuG) in Bezug auf neu eingegangene, erledigte und anhängige Rechtssachen ab. Beide Gerichte verzeichneten im letzten Jahr mit über 1700 Fällen wie bereits im Vorjahr eine hohe Zahl an neu eingegangenen Rechtssachen. In den letzten fünf Jahren stieg die Anzahl eingegangener Sachen pro Jahr um 21 %. Auffällig für 2022 ist die Anzahl der Rechtssachen betreffend EU-Sanktionen im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg, die 11,4 % aller anhängig gemachten Rechtssachen ausmachte. Die Zahl der Vorabentscheidungssachen bleibt konstant hoch: insgesamt wurde 546 Mal von mitgliedstaatlichen Gerichten vorgelegt, wobei die meisten Vorlagen aus Deutschland (98), Italien (63) und Bulgarien (43) kamen. Mit 1666 lag die Zahl der erledigten Rechtssachen im vergangenen Jahr im Durchschnitt. Die durchschnittliche Verfahrensdauer betrug wie in den Vorjahren je nach Entscheidungstypus zwischen 16 und 20 Monaten.

Ausschüsse geben grünes Licht für die Digitalisierung der Justiz – EP

Das Gesetzgebungsverfahren zur Digitalisierung der justiziellen Zusammenarbeit schreitet weiter voran. Der Rechtsausschuss (JURI) und der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) haben am 1. März 2023 in einer gemeinsamen Sitzung den Berichtsentwurf zum Verordnungsvorschlag der EU-Kommission zur Digitalisierung der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen mit Änderungen angenommen, (vgl. Pressemitteilung). Der Rat hatte sich dazu bereits im Dezember 2022 positioniert (vgl. EiÜ 43/22). Der Vorschlag zielt insbesondere darauf ab, die justizielle Zusammenarbeit und den Zugang zur Justiz in grenzüberschreitenden Fällen durch verstärkte Digitalisierung und so u. a. auch in Zeiten einer Pandemie sicherzustellen (dazu EiÜ 38/21; 07/21). Viele der im Berichtsentwurf enthaltenen Änderungen decken sich mit den bereits in der Stellungnahme 51/22 veröffentlichten Forderungen des DAV (dazu bereits EiÜ 43/22; 36/22). Zum Beispiel sollen die Parteien die Möglichkeit haben dem Einsatz der Videokonferenztechnik widersprechen zu können (dazu bereits EiÜ 31/22). Ferner betreffen die Änderungen Präzisierungen tatbestandlicher Ungenauigkeiten hinsichtlich des Einsatzes der Technik. Sobald das Plenum über den Bericht abgestimmt hat, können Rat und EU-Parlament in die Trilogverhandlungen eintreten.

DSGVO gilt auch für Offenlegungspflichten in Zivilverfahren – EuGH

Am 2. März 2023 hat der EuGH zur Datenverarbeitung in Zivilprozessen entschieden (Rs. C‑268/21). In dem streitgegenständlichen Verfahren geht es um die Anordnungsmöglichkeit des Gerichts zur Vorlage eines schriftlichen Dokuments (vgl. in Deutschland § 142 Abs. 1 S. 1 ZPO). Das Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichts in Schweden (Högsta domstolen) umfasst zunächst die Frage, ob Art. 6 Abs. 3 und 4 DSGVO Anwendung findet, wenn ein Gericht im Zivilverfahren die Offenlegung von Dokumenten als Beweismittel anordnet. Sollte dies der Fall sein, stellt sich darüber hinaus die Frage, ob bei der Anordnung die Interessen von betroffenen Personen, deren Daten verarbeitet werden, zu berücksichtigen sind. Fraglich ist hierbei, ob insbesondere die DSGVO spezielle Anforderungen vorsieht. Der EuGH stellte nun klar, dass Art. 6 Abs. 3 und 4 der DSGVO im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens bei der Anordnung zur Vorlegung von Beweismitteln anwendbar ist, welche personenbezogene Daten Dritter enthalten. Dabei muss das Gericht eine Interessenabwägung durchführen. Diese soll sowohl den Umständen des Einzelfalls als auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen. Ferner sind auch die Art des betreffenden Verfahrens sowie die Anforderungen, die aus dem Grundsatz der Datenminimierung nach Art. 5 Abs. 1 lit. c DSGVO folgen, miteinzubeziehen.

Brüssel Ia-Verordnung: Beurteilung der Verbrauchereigenschaft – EuGH

Die Beurteilung der Eigenschaft als Verbraucher im Sinne der Verordnung 1215/2012 (Brüssel Ia-Verordnung) erfolgt nach dem Zweck des Vertragsschlusses und unabhängig davon, ob eine Person selbständig oder in einem Arbeitsverhältnis tätig ist. Bei Zweifeln bzgl. der Begleitumstände kann die Gesamtwürdigung zugunsten der Person, die sich auf die Eigenschaft beruft, ausfallen. Diese Auslegung der Brüssel Ia-Verordnung nahm der EuGH in seinem Urteil vom 9. März 2023 (Rs. C-177/22) vor. Dem Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Salzburg liegt die streitige Frage der Verbrauchereigenschaft nach Art. 17, 18 der Verordnung bei Vertragsschluss zugrunde, nachdem sich das Bezirksgericht unter Annahme eines Geschäfts zwischen Unternehmen für die Schadensersatzklage der Klägerin gegen eine deutsche Gesellschaft infolge Mängel der Kaufsache für unzuständig befunden hat. Zunächst wies der EuGH auf den Grundsatz hin, die Einstufung als Verbraucher anhand der mit dem Vertragsschluss verfolgten Ziele vorzunehmen. Bei der Prüfung, ob beim Vertragspartner der Eindruck, zu beruflichen Zwecken gehandelt zu haben, erweckt wurde, seien alle Begleitumstände einzubeziehen, insbesondere die Reaktion auf Bezeichnungen als Unternehmer im Vertrag oder die Einschaltung eines Händlers als Vermittler. Ihr Beweiswert richte sich allein nach nationalem Recht. Sollte keine rechtlich hinreichende Feststellung möglich sein, hat das nationale Gericht zu beurteilen, ob diese Zweifel der Person, die sich auf die Verbrauchereigenschaft beruft, zugutekommen. Nach dem EuGH gilt demnach keine zwingende Vermutung.

Anforderung an Antrag auf Familienzusammenführung – EuGH

Eine nationale Regelung, welche die sich im Ausland befindlichen Familienangehörigen verpflichtet, bei den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaates persönlich einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zwecks der Familienzusammenführung zu stellen, ohne Ausnahmen vorzusehen wenn dies unmöglich ist, ist nach den Schlussanträgen vom 9. März 2023 des Generalanwalts Pitruzzella zu der Rs. C-1/23 PPU nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Das französischsprachige Gericht erster Instanz in Brüssel hatte die Frage zur Auslegung von Art. 5 I der Richtlinie 2003/86 zum Recht auf Familienzusammenführung vorgelegt. Im Ausgangsfall wurde ein Antrag auf Zusammenführung für die sich in Syrien aufhaltende Ehefrau und minderjährigen Kinder eines anerkannten Flüchtlings abgelehnt. Nach der belgischen Ausländerbehörde genügte die Einreichung per E-Mail nicht. Das Erfordernis des persönlichen Erscheinens sei gerechtfertigt, weil es die Identifikation und damit Betrugsbekämpfung gewährleiste. Den Feststellungen des Generalanwalts zufolge würde wegen dieser Anforderung jedoch die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung praktisch unmöglich gemacht. Soweit keine Ausnahmeregelungen im Fall der faktischen Unmöglichkeit, sich zu einer diplomatischen oder konsularischen Vertretung zu begeben, vorgesehen sei, werde auch gegen das Recht auf Achtung der Einheit der Familie nach Art. 7 und 24 II der Charta der Grundrechte verletzt.

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