EiÜ 11/2020
Zwischen Pandemie und Rechtsprechung: Die Justiz in Europa – DAV
Das Justizwesen in Europa schränkt seine Tätigkeit weitgehend ein. Als Reaktion auf die Pandemie haben Gerichte in der EU Vorkehrungen gegen die Verbreitung des Coronavirus getroffen. In Belgien ist es Anwältinnen und Anwälten nun grundsätzlich erlaubt, ihre Mandanten auch dann zu vertreten, wenn deren Anwesenheit gesetzlich vorgeschrieben ist. Das französische Justizministerium hat verkündet, dass Richter von zuhause arbeiten sollen, sofern ihre Anwesenheit am Gericht nicht notwendig ist. Die spanische Anwaltskammer fordert ferner, Inhaftierten Rechtsbeistand durch den Einsatz technischer Mittel zu gewährleisten sowie die Bereitstellung von Desinfektionsmitteln, Masken und Handschuhen, sofern physische Anwesenheit erforderlich ist. Der DAV stellt angesichts der Corona-Krise eine FAQ-Seite für Anwaltskanzleien mit Antworten auf Fragen der Terminsverlegung, Fristverlängerungen oder Fortbildungswahrnehmung bereit. Ferner warnt er in einem Statement vor einer Pausierung der strafrechtlichen Hauptverhandlungen in Deutschland und hebt in der Pressemitteilung 7/20 die Systemrelevanz von Anwälten hervor. Der EGMR hat indes Anhörungen für März und April abgesagt. Ferner wurden Fristenregelungen für die Einreichung von Anträgen und Beschwerden gelockert. Der EuGH hat angekündigt, bis auf weiteres nur besonders dringliche Rechtsachen zu bearbeiten. Die Verfahrensfristen in allen anderen Rechtssachen laufen jedoch weiter. Dieselben Maßnahmen gelten für das Gericht der EU (EuG).
Leitlinien zu Fahrgastrechten in Zeiten von Covid-19 – KOM
In Anbetracht der Corona-Krise kommt es teils zu Reisebeschränkungen und Grenzkontrollen einiger Mitgliedsstaaten. Um für eine einheitliche Rechtsanwendung zu sorgen, hat die EU-Kommission am 18. März 2020 Leitlinien zu den Fahrgastrechten (nur in englischer Sprache) veröffentlicht. Diese Leitlinien sollen zum einem Klarheit für die Reisenden schaffen, zum anderem die Kosten für den Transportsektor senken und insbesondere Rechtssicherheit schaffen. Betroffen sind Fahrgastrechte bei Reisen per Flugzeug, Bahn, Schiff und Bus und die entsprechenden Verpflichtungen der Beförderungsunternehmen. Im Fall von Flugannullierungen etwa muss das Transportunternehmen den Passagieren das Geld zurückerstatten oder eine neue Flugverbindung vorschlagen. Auch Gutscheine zur späteren Verwendung sind eine Möglichkeit. Wenn die Behörden zur Eindämmung von Covid-19 Flüge gänzlich oder die Bewegung von Personen in einer Weise verbieten, dass die Durchführung des Fluges de facto unmöglich gemacht wird, so entziehen sich diese Maßnahmen der tatsächlichen Kontrolle der Fluggesellschaft und eine Entschädigungspflicht entfällt nach Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung Nr. 261/2004.
Verbesserter Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten – KOM
Die EU-Kommission hat in einem Fahrplan dargelegt, wie Bürger und Nichtregierungsorganisationen, die Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen mit Auswirkung auf die Umwelt haben, auf nationaler und europäischer Ebene einen besseren Zugang zur Justiz haben können. Dazu kündigt sie eine Überarbeitung der Aarhus-Verordnung Nr. 1367/2006 an. Derzeit deckt die Aarhus-Verordnung nur Verwaltungsakte individueller Tragweite ab, jedoch keine von allgemeiner Tragweite. Dies stelle die wichtigste Einschränkung für Nichtregierungsorganisationen dar. Auch die bestehenden Fristen für Überprüfungsverfahren werden als zu kurz bezeichnet. Bedenken äußert die Kommission außerdem hinsichtlich des Zugangs zu Gerichten in Umweltangelegenheiten in den Mitgliedsstaaten, wo insbesondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Klagebefugnis auftreten. Zu dem Fahrplan hat die EU-Kommission eine öffentliche Konsultation bis zum 3. April 2020 eröffnet. Der Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) hatte bereits im März 2019 Vorschläge zur Überarbeitung der Aarhus-Verordnung unterbreitet.
Anwälte benötigen technologisches Grundverständnis – CCBE
Der Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) veröffentlichte im März 2020 sein Positionspapier mit Erwägungen zu rechtlichen Aspekten der künstlichen Intelligenz (KI) (nur englischer Fassung). Dabei übernehme die Anwaltschaft angesichts ihrer Doppelrolle zum einen als aktiver Teil des Justizsystems und zum anderen als Anbieter von Rechtsdienstleistungen eine verantwortungsvolle Rolle. Effizienz- und Kostengesichtspunkte dürften nicht zu einer Beeinträchtigung von Grundrechten führen. Dies erfordere, dass die Auswirkungen von KI im Justizwesen möglichst frühzeitig und umfassend bewertet werden. Besonders sensibel sei der Bereich des Strafrechts. Hier sei der Einsatz solcher Systeme nur bei ausreichenden Schutzmaßnahmen gegen Voreingenommenheit und Diskriminierung zulässig. Aus dem Papier folgt aber, dass der CCBE vor allem von einer Veränderung der Erwartungshaltung der Mandantschaft ausgeht. So werde nunmehr vorausgesetzt, dass ein Verteidiger die für den Prozess relevanten Daten analysieren, gleichzeitig die Voreingenommenheit einer KI-basierten Analyse erkennen und gegenüber dem Gericht rügen könne. Im Rahmen der Ausbildung sollten Anwälte deshalb ein Verständnis für ihr technologisches Arbeitsumfeld entwickeln. Das Aufzeigen von Grenze der Anwendbarkeit und Nutzbarkeit von KI dürfe nicht vollständig dem technologischen Sektor überlassen werden.
Stimmen zur humanitären Krise in Griechenland – EP
Die Mitglieder des EU-Parlaments verurteilen die Situation an der griechisch-türkischen Grenze vermehrt als unmenschlich und das Verhalten Griechenlands vereinzelt als völkerrechtswidrig. Die Zurückweisung der Flüchtlinge an der Grenze durch Waffen widerspreche dem Schutz der Menschenwürde sowie dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gemäß Art. 2 EUV. Dies war der Tenor einer Aussprache zur Lage der Migranten an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei und der gemeinsamen Reaktion der EU am 10. März 2020. Nachdem Griechenland zum Schutz seiner Grenzen unter anderem Tränengas und Wasserwerfer einsetzte und ankündigte, für begrenzte Zeit keine neuen Asylgesuche mehr zu registrieren (vgl. DAV-Pressemitteilung 05/20), wurde vermehrt auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationspolitik hingewiesen. Der Appell, besonders unbegleitete minderjährige Flüchtlinge so bald wie möglich in die Mitgliedsstaaten umzusiedeln, wurde mehrfach geäußert. Auch gegenläufige Positionen wurden vertreten. Der DAV machte in einem Statement bereits deutlich, dass die Hilfsorganisationen in Griechenland geschützt werden müssen. Das Team des vom DAV mitgegründeten Projekts European Lawyers in Lesvos musste aufgrund massiver Angriffe auf der griechischen Insel Lesbos seine Arbeit vor Ort zuvor vorübergehend einstellen (vgl. EiÜ 10/20).
Einziehung illegaler Vermögensgegenstände im Zivilverfahren möglich – EuGH
Die rechtmäßige Einziehung illegaler Vermögensgegenstände in einem gerichtlichen Verfahren setzt nicht voraus, dass vorher eine strafrechtliche Verurteilung der Betroffenen erfolgt ist, so der Europäischen Gerichtshof (EuGH) in seiner Entscheidung vom 19. März 2020 in der Rs. C‑234/18. Anlass des Verfahrens war ein Vorabentscheidungsgesuch eines bulgarischen Zivilgerichts, vor dem ein Einziehungsverfahren gegen einen Aufsichtsratsvorsitzenden einer bulgarischen Bank läuft. Eingeleitet wurde das nationale Verfahren von der bulgarischen Vermögenseinziehungskommission, nachdem sie im Juli 2014 von der Staatsanwaltschaft erfahren hat, dass gegen den Betroffenen wegen des Verdachts der Untreue ermittelt wird. Er soll verschiedene Personen dazu bestimmt haben, Vermögen der Bank zu unterschlagen - insgesamt mehr als 105 Mio. Euro. Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren läuft noch. Für das bulgarische Zivilgericht stelle sich damit u.a. die Frage, ob Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI verlange, dass eine Einziehung eine vorherige strafrechtliche Sanktionierung voraussetzt. Dies hat der EuGH unter Hinweis auf den Zweck des Beschlusses verneint. Er solle die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Einziehungsentscheidungen im Rahmen von Strafverfahren erleichtern und sei deshalb nur auf solche Verfahren anwendbar. Der Beschluss versage den Mitgliedsstaaten nicht, andere Einziehungsmöglichkeiten neben dem Strafverfahren zu schaffen.
Strategie zur Umsetzung der EU-Grundrechtecharta angekündigt – KOM
Die EU-Kommission hat in einem Fahrplan (nur in englischer Sprache verfügbar) eine „Neue Strategie für die Umsetzung der EU-Grundrechtecharta“ für Ende 2020 angekündigt. Hintergrund ist, dass eine im Juni 2019 durchgeführte Eurobarometer-Umfrage gezeigt hat, dass nur ein Zehntel der Bevölkerung überhaupt weiß, dass die Charta existiert. Die Strategie wird sich mit der Frage befassen, wie die Arbeit der Akteure in der Durchsetzungskette der Charta (u.a. Regierungen/Verwaltungen, Gerichte, Strafverfolgungsbehörden, Anwaltschaft, Menschenrechtsinstitutionen) unterstützt werden kann. Der Schwerpunkt soll auf Sensibilisierung, Aus- und Fortbildung und Beratung liegen, die im Rahmen der EU-Programme für die Zeit nach 2020 im Justizbereich gefördert werden können. Auf dem europäischen E-Justiz-Portal wird eine neue Webseite eingerichtet, auf der die Mitgliedsstaaten bewährte Praktiken zur Nutzung der Charta und zur Sensibilisierung eintragen können. Zu dem Fahrplan konsultiert die Kommission die Interessenträger bis zum 16. April 2020. Außerdem konsultiert sie Mitgliedsstaaten, Richter und andere Rechtspraktiker sowie zivilgesellschaftliche Organisationen mithilfe eines Fragebogens.
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