Europa im Überblick, 12/2020

EiÜ 12/2020

Aktionsplan für Menschenrechte: Den Einzelnen besser schützen – KOM

Nach der Veröffentlichung ihres Fahrplans (vgl. EiÜ 4/20) hat die EU-Kommission nun gemeinsam mit dem Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell die gemeinsame Mitteilung zum EU-Aktionsplan für Menschenrechte und Demokratie 2020-2024 sowie den dazugehörigen Aktionsplan angenommen. Zu den vielfältigen Herausforderungen zählen sie u.a. die zunehmende Gewalt und Einschüchterung gegenüber Menschenrechtsverteidigern (über 2600 berichtete Fälle in den letzten drei Jahren), die unbestraften Menschenrechtsverletzungen und Angriffe auf die Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs sowie steigender Widerstand gegen Geschlechtergleichstellung. Der Aktionsplan sieht u.a. die Prozessbeobachtung bei Verfahren gegen Menschenrechtsverteidiger und die Unterstützung ihrer Rechtsbeistände vor sowie die Überprüfung der Auswirkungen auf die Familien der betroffenen Verteidiger. Die Rechtsstaatlichkeit soll in der EU und in ihren Partnerländern gestärkt werden, der Zugang zum Justiz- und zum Rechtsbeistand gestärkt werden. Schließlich unterbreiteten die EU-Kommission und der Außenbeauftragte dem Rat der EU den Vorschlag, dass dieser gegenüber dem Europäischen Rat die Empfehlung abgeben soll, den Aktionsplan in einem einstimmigen Beschluss als strategisches Ziel der Union gem. Art. 22 I EUV zu formulieren, sodass der Rat über Fragen hinsichtlich des Aktionsplans zukünftig mit qualifizierter Mehrheit abstimmen kann.

Disziplinarordnung für Richter: Vorlage unzulässig, aber mit Fingerzeig – EuGH

Die polnischen Bezirksgerichte von Lodz und Warschau sind mit zwei Vorabentscheidungsersuchen im Zusammenhang mit der polnischen Justizreform vor dem EuGH gescheitert. Der EuGH hat mit Urteil vom 26. März 2020 in den verbundenen Rechtssachen C‑558/18 und C‑563/18 beide Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig erklärt, da die Vorlagefragen keine Auslegung des Unionsrechts betreffen. Mit Blick auf die beträchtlichen Einflussmöglichkeiten des Justizministers hatten die Bezirksgerichte in den Vorabentscheidungsersuchen die Befürchtung geäußert, dass Disziplinarverfahren gegen die Einzelrichter der jeweiligen Ausgangsverfahren eingeleitet werden könnten, wenn diese in einer bestimmten, politisch unliebsamen Weise entscheiden würden. Mit den Vorlagefragen wollten die Bezirksgerichte wissen, ob die neue polnische Regelung über die Disziplinarordnung der Richter insofern mit dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV garantierten Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vereinbar ist. Laut EuGH sei jedoch eine Auslegung der betreffenden unionsrechtlichen Vorschrift nicht erforderlich, um eine Entscheidung in dem Ausgangsverfahren zu treffen. Der EuGH unterstreicht aber, dass es nicht zugelassen werden könne, dass nach nationalen Vorschriften Richter Disziplinarverfahren befürchten müssten, wenn sie den EuGH mit Vorabentscheidungsverfahren anrufen. Dieser Umstand stelle zudem eine wesentliche Garantie für die richterliche Unabhängigkeit dar, die insbesondere für das reibungslose Funktionieren der justiziellen Zusammenarbeit von wesentlicher Bedeutung ist.

Neues EU-Asylrecht: Schutzsuchende nicht inhaftieren – DAV/Europarat

Bereits am 4. Februar 2020 verabschiedete die Bundesregierung ein Positionspapier zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (auf Anfrage erhältlich) und möchte damit Einfluss auf den „Neuen Pakt zu Migration und Asyl“ nehmen, den die EU-Kommission Mitte des Jahres vorlegen wird. In dem Reformvorschlag spricht sich die Bundesregierung insbesondere für eine „Vorprüfung“ aller Asylanträge an den EU-Außengrenzen aus. Die Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht des DAV hat hierzu gemeinsam mit anderen Organisationen Stellung bezogen. Positiv wurde die Erkenntnis der Bundesregierung bewertet, dass das Dublin-System nicht funktionsfähig sei. Inhaltliche Vorprüfungen an der Grenze werden abgelehnt, da so faire Verfahren und effektiver Rechtsschutz nicht gewährleistet werden und Zustände wie etwa in griechischen Hotspots drohen. Auch die Durchführung dieser Vorprüfung mithilfe zeitlich begrenzter Freiheitsbeschränkung, die de facto einer Inhaftierung gleichkommt, wird als Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abgelehnt. Auch die Menschenrechtskommissarin des Europarates verurteilt in einem Brief an den Vizepräsidenten der Kommission Schinas und Kommissarin Johansson die „Einwanderungshaft“. Sie fordert die Kommission auf, im Pakt auch der Frage der Kriminalisierung und Stigmatisierung von Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen zu begegnen, die mit Migranten und Asylsuchenden arbeiten.

Entwurf für zukünftiges Abkommen mit dem Vereinigten Königreich – KOM

Die EU-Kommission hat am 18. März 2020 einen Entwurf des Abkommens über die zukünftigen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich veröffentlicht. Das Kapitel zu Dienstleistungen erwähnt zwar Rechtsdienstleistungen nicht explizit, allerdings ist vorgesehen, dass hinsichtlich der Anerkennung von Berufsqualifikationen die jeweiligen Berufsverbände und Standesvertretungen beider Vertragsparteien gemeinsame Empfehlungen zur Anerkennung der jeweiligen beruflichen Qualifikationen erarbeiten sollen. Die Empfehlungen sollen mit Nachweisen unterlegt werden, u.a. bezüglich des wirtschaftlichen Wertes einer geplanten Vereinbarung in diesem Bereich sowie die Vereinbarkeit des jeweiligen Regelungsrahmens. Die gemeinsamen Empfehlungen sollen anschließend dem neu einzurichtenden Partnerschaftsrat, der sich aus Vertretern beider Parteien zusammensetzt, zur Annahme durch Beschluss vorgelegt werden. Bei Erstellung und Überprüfung der Bedingungen sollen bestimmte Leitlinien für Vereinbarungen über die Anerkennung von Berufsqualifikationen berücksichtigt werden. Diese sind derzeit allerdings noch nicht ausformuliert. Der Entwurf enthält auch ein Kapitel für eine Sicherheitspartnerschaft sowie Grundsätze zur justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in Bezug auf die Vorbeugung und Verfolgung von Straftaten sowie der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung. Der Übergangszeitraum, in dem das Vereinigte Königreich an das Unionsrecht gebunden ist, endet regulär am 31. Dezember 2020. Eine Fristverlängerung hat die britische Regierung bisher nicht beantragt.

Ethik und Datenschutz als Herausforderungen für kommende Jahre – EDSB

Am 18. März 2020 erschien der Jahresbericht 2019 des Europäischen Datenschutzbeauftragten (EDSB) und gibt einen Einblick in alle Aktivitäten des EDSB im Jahr 2019. Wojciech Wiewiórowski wurde im November 2019 nach dem Ableben von Giovanni Buttarelli zum EDSB ernannt (s. EiÜ 42/19). Da im Dezember 2018 die neue Verordnung Nr. (EU) 2018/1725 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten für die EU-Institutionen in Kraft trat, lag der Schwerpunkt des EDSB im Jahr 2019 auf der Sicherstellung, dass die EU-Institutionen die neuen Vorschriften wirksam mit den Datenschutzbeauftragten umsetzen können. Ferner stellte er am 19. Dezember 2019 Leitlinien zur Bewertung der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen vor, die die Grundrechte auf Privatsphäre und den Schutz personenbezogener Daten einschränken. Seit Juli 2019 erscheinen zudem Berichte im neuen Format TechDispatch, in welchen aufkommende Entwicklungen neuer Technologien und deren Folgen erläutert werden. Ferner ist seit 2019 der Website Evidence Controller (WEC) als Open Source Software Tool zur automatischen Untersuchung von Webseiten zum Schutz der Privatsphäre und persönlicher Daten frei zugänglich. Um die Debatte über Ethik und Digitalisierung zu fördern, hat der EDSB eine Reihe von Webinaren durchgeführt, die in Form eines Podcasts abrufbar sind. Der Diskurs über digitale Ethik setzte sich unter anderem auch durch die Bemühungen der Arbeitsgruppe für künstliche Intelligenz, Ethik und Datenschutz fort. Die neue Strategie des EDSB wird im März 2020 veröffentlicht und wird die Prioritäten und Ziele für die kommenden Jahre festlegen.

Pauschalreisende können vor Gericht des Abflugorts klagen – EuGH

Mit Urteil in der Rs. C-215/18 stellt der EuGH am 26. März 2020 klar, dass ein Fluggast einer Pauschalreise auch Ansprüche auf Ausgleichszahlung nach den Art. 6 und 7 Fluggastrechteverordnung Nr. 261/2004 erheben kann. Das gilt selbst dann, wenn zwischen dem Fluggast und dem Luftfahrtunternehmen kein Vertrag geschlossen wurde und der fragliche Flug Bestandteil einer Pauschalreise im Sinne der Pauschalreiserichtlinie 90/314/EWG ist. Das vorlegende Gericht hatte Zweifel an seiner Zuständigkeit in diesem Rechtsstreit, da sich die Zuständigkeit nach der Brüssel Ia-Verordnung Nr. 44/2001 grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richtet. Außerdem schloss die Klägerin den Vertrag mit einem Reisebüro und nicht direkt mit der Fluggesellschaft. Allerdings sei die Airline auch dann als „ausführendes Luftfahrtunternehmen" im Sinne der Fluggastrechteverordnung anzusehen, wenn sie einen Fluggast im Namen eines Dritten – also hier des Reisebüros – befördere. Dabei sei die Beförderung trotz fehlenden Vertrags zwischen Fluggast und der Fluggesellschaft im Namen des Reisebüros eine Erfüllung einer freiwillig eingegangenen Verpflichtung, sodass die Brüssel-Ia Verordnung anwendbar sei und dies dazu führe, dass eine Klage auf Ausgleichsleistung gegen das Luftfahrtunternehmen vor dem Gericht des Abflugortes erhoben werden kann.

Urteile: Zehn-Minuten Anhörung und inhaftierte Minderjährige – EGMR

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte setzt sich in zwei Urteilen vom 26. März 2020 mit der Abschiebung von Asylsuchenden auseinander. Im ersten Urteil (Nr. 24917/15) geht es darum, ob die Abschiebung von 19 Afghanen von der Slowakei in die Ukraine eine Kollektivausweisung darstellt. Die Antragsteller waren gemeinsam mit weiteren Personen von der slowakischen Polizei aufgegriffen worden und einzeln etwa zehn Minuten befragt worden. Der Gerichtshof kann bei der Ausweisung keine Verletzung des Verbots der Kollektivausweisung von Ausländern nach Art. 4 des Protokolls Nr. 4 der EMRK feststellen. Denn die Antragsteller hätten trotz der kurzen Befragung die Möglichkeit erhalten, Argumente vorzubringen, die sie zu einem Verbleib in der Slowakei berechtigt hätten. Andere Personen der Gruppe wurden in ein Aufnahmezentrum verlegt. Das Urteil erging mit vier zu drei Stimmen. Im zweiten Urteil (Nr. 23685/14) geht es um eine Familie aus der Tschetschenischen Republik, die in Polen einen Asylantrag stellte und dann weiter nach Deutschland reiste. Die Familie mit fünf Kindern wurde daraufhin in Polen in einem geschlossenen Ausländerzentrum inhaftiert. Die Inhaftierung galt zunächst für 60 Tage und wurde dann verlängert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass in Bezug auf die noch minderjährigen Kinder eine Verletzung des Rechts auf Freiheit i.S.d. Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK vorliegt. Eine Inhaftierung von Kindern in geschlossenen Ausländerzentren sei zwar möglich, die Dauer der Inhaftierung müsse aber auf ein striktes Minimum beschränkt werden. Die nationalen Behörden hätten nicht das Notwendige getan, um die Dauer auf dieses Minimum zu begrenzen.

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