Europa im Überblick, 14/2020

EiÜ 14/2020

Polnische Disziplinarkammer vorerst gestoppt – EuGH

Der EuGH hat erneut unionsrechtliche Zweifel an den Justizreformen in Polen geäußert und gab am 8. April 2020 einem Antrag der EU-Kommission auf einstweilige Anordnung statt. Der EuGH beschloss in der Rs. C-791/19 R (nur in französischer Sprache), dass Polen die Anwendung der nationalen Bestimmungen über die Zuständigkeiten der Disziplinarkammer in Disziplinarsachen gegen Richter unverzüglich auszusetzen habe. Ein endgültiges Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt fallen. Der EuGH betonte, dass die Organisation der Justiz zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten falle, die nationalen Gerichte jedoch Bestandteil der Rechtsbehelfssysteme in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen seien und dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit entsprechen müssen. Die bloße Aussicht für die polnischen Richter, Gefahr zu laufen, mit einem Disziplinarverfahren vor der Disziplinarkammer belangt zu werden, deren Unabhängigkeit nicht gewährleistet werden kann, sei geeignet, die richterliche Unabhängigkeit zu beeinträchtigen. Damit bejaht der EuGH auch die im einstweiligen Rechtsschutz erforderliche Dringlichkeit, da die Unionsrechtsordnung einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden nehmen könne. Es käme zudem nicht zu einer vollständigen Auflösung der Disziplinarkammer, sondern lediglich zu einer vorübergehenden Aussetzung der Tätigkeit. Der DAV begrüßt die Entscheidung des EuGH in einem Statement (deu/eng) ausdrücklich, fordert aber auch weitere Schritte der EU-Kommission gegen die jüngsten Änderungen des Disziplinarrechts in Polen.

Anforderungen an Corona-Tracking-Apps – KOM/DAV

Die EU-Kommission hat Empfehlungen (nur in englischer Sprache) vorgestellt, mit denen die Nutzung mobiler Anwendungen und mobiler Daten in der Corona-Krise europäisch koordiniert werden sollen, ohne dass Datenschutz-Standards beeinträchtigt und fragmentiert werden. Empfohlen wird sowohl ein gesamteuropäisch koordinierter Ansatz für Apps, die Bürgern eine wirksamere soziale Distanzierung ermöglichen und zur Warnung, Prävention und Ermittlung von Kontaktpersonen, sowie ein gemeinsamer Ansatz zur Vorhersage der Entwicklung des Virus durch anonymisierte und aggregierte mobile Standortdaten. Die Empfehlung legt Schlüsselprinzipien für die Nutzung dieser Anwendungen und Daten im Hinblick auf die Datensicherheit und die Achtung der EU-Grundrechte wie Privatsphäre und Datenschutz fest. Der DAV bezog derweil in seiner Stellungnahme Nr. 25/20 Position zur geplanten Einführung einer freiwilligen Tracking-App in Deutschland. Wichtig sei demnach, dass keine zentralen Datensammlungen angelegt werden. Darüber hinaus müssen die durch die Nutzung der App entstandenen Daten einem Verwendungs- und Verwertungsverbot durch Ermittlungsbehörden unterliegen.

Neuer Online-Fortbildungskurs zur EMRK – Europarat

Der Europarat hat eine aktualisierte Version seines Onlinekurses zum Umgang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) veröffentlicht. Es handelt sich dabei um ein kostenloses interaktives Schulungsprogramm, das sich an Juristen, Behörden und Studenten, aber auch an die Zivilgesellschaft richtet. Der Kurs ist Teil des vom Europarat initiierten HELP-Programms, das die Schulung von Rechtspraktikern im Umgang mit EMRK und Charta fördert. Enthalten sind nicht nur Module über die EMRK und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, sondern erstmals auch ein Teil über die Vollstreckung seiner Urteile. Laut Generalsekretärin Marija Pejčinović Burić hat Europa dank der EMRK weltweit das stärkste System zur Durchsetzung von Menschenrechten. Um diese zu gewährleisten ist es aber umso wichtiger, dass Juristen und Experten wissen, wie das System funktioniert. Im Moment ist die aktualisierte Fassung nur auf Englisch verfügbar, sie soll aber bereits in einigen Monaten in weiteren Sprachen erhältlich sein.

Rechtsstaatlichkeit steht nicht unter Quarantäne – Rat

Am 6. April 2020 versammelten sich die Justizminister/innen der EU-Mitgliedsstaaten via Videokonferenz unter der Teilnahme von Justizkommissar Didier Reynders, um über die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Justiz zu diskutieren (s. Pressemitteilung, nur in englischer Sprache). Trotz der außergewöhnlichen Umstände dürften die eingeführten Notfallmaßnahmen in den Mitgliedsstaaten nur im Einklang mit den Grundwerten der EU erfolgen. So betonte Didier Reynders, dass die Rechtsstaatlichkeit nicht unter Quarantäne stehe. Die EU-Justizminister tauschten sich darüber aus, wie im Bereich der Strafjustiz der Druck auf die Gefängnisse verringert werden könne, etwa durch den Einsatz der elektronischen Fußfessel, insbesondere für Häftlinge in Untersuchungshaft und Gefangene mit niedrigem Risikoprofil. Beim Europäischen Haftbefehl soll eine Koordinierungsgruppe, bestehend aus einer oder zwei Kontaktstellen pro Mitgliedsstaat, eingerichtet werden, um effiziente und schnelle Kommunikationskanäle zwischen den Mitgliedsstaaten sicherzustellen. Auch bei der justiziellen Zusammenarbeit soll die elektronische Kommunikation für alle Verfahren gewährleistet werden. Ziel ist eine zunehmende Digitalisierung der Gerichtsverfahren. In einigen Mitgliedsstaaten sind kurzfristige Änderungen im Zuge der Coronakrise eingeführt worden, etwa im Hinblick auf Fristen in Gerichts- und Vollstreckungsverfahren.

Grundrechte während COVID: Verhältnismäßigkeit gefragt – FRA

Die Europäische Grundrechteagentur (FRA) hat den ersten Sachstandsbericht über die Auswirkungen der Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie auf die Grundrechte veröffentlicht und stellt schwerwiegende Grundrechtseingriffe fest. Die Maßnahmen der Regierungen wirken sich demnach vor allem auf die Rechte bereits schutzbedürftiger oder gefährdeter Menschen, d.h. älterer Menschen, Kinder, Menschen mit Behinderungen, Roma oder Flüchtlinge aus. Der Bericht beleuchtet ausführlich auch die Themen Rassismus sowie Desinformation und Datenschutz in COVID-19-Zeiten. Hinsichtlich des Zugangs zur Justiz stellt der Bericht fest, dass die Mitgliedsstaaten um ein Gleichgewicht zwischen dem Zugang zur Justiz und der Gewährleistung der Gesundheit und Sicherheit aller an Gerichtsverfahren beteiligten Personen ringen. Die Folgen der Krise zeigten die Grenzen der Möglichkeiten der Justizsysteme auf, im Home Office zu arbeiten, elektronische Kommunikationsgeräte zu nutzen, auf Dateien in Datenbanken zuzugreifen und Verfahren per Videokonferenz durchzuführen. Länderspezifische Berichte (vgl. Deutschland) geben detailliert die Lage in den Mitgliedsstaaten wieder. Weitere Berichte werden folgen.

Einigkeit über alternativen WTO-Streitbeilegungsmechanismus – KOM

Die EU hat sich am 27. März 2020 mit 15 anderen Mitgliedern der WTO auf einen alternativen Streitbeilegungsmechanismus verständigt, solange die Berufungsinstanz der WTO aufgrund der nicht erfolgten Neuberufung von Schiedsrichtern blockiert ist (s. EiÜ 44/19). Die Vereinbarung sieht die Einrichtung eines ständigen Pools von zehn Berufungsrichtern vor. Eine einheitliche Rechtsanwendung soll dadurch gewährleistet werden, dass sich die Berufungsrichter untereinander beraten dürfen. Diese Übergangslösung funktioniert prinzipiell gemäß den üblichen Regeln für Berufungsverhandlungen der WTO, sofern die Streitparteien nichts anderes vereinbaren. Neben der EU gehören u.a. Australien, Brasilien, China, Neuseeland und Norwegen zu den Unterzeichnern der Vereinbarung, die insgesamt aber für weniger als 40% der Handelsstreitigkeiten verantwortlich sind, die dem Streitbeilegungsmechanismus der WTO unterbreitet werden. Es wird erwartet, dass die Vereinbarung in einigen Wochen nach offizieller Mitteilung an die WTO sowie den erforderlichen internen Schritten der Unterzeichner einsatzbereit sein wird. Sie steht allen anderen Mitgliedern der WTO nach Unterzeichnung offen.

Freilassung von Richtern und Anwälten in der Türkei gefordert – EP

Vorzeitige Bewährung und Hausarrest sollen auch denjenigen Insassen zugutekommen, die derzeit in türkischen Gefängnissen ohne Beweise festgehalten werden. Dafür sprachen sich Mitglieder des Europäischen Parlaments am 30. März in einer Pressemitteilung (nur in englischer Sprache) aus. Die türkische Regierung plant, als Reaktion auf die Pandemie die Haftzeit für bis zu 100.000 Häftlinge durch Alternativen wie vorzeitige Bewährung und Hausarrest zu ersetzen. Dies wurde von Ignacio Sánchez Amor, ständiger Berichterstatter für die Beziehungen zur Türkei und Sergey Lagodinsky, Vorsitzender der EP-Delegation im Gemischten Ausschuss EU-Türkei, grundsätzlich begrüßt. Gleichzeitig müsse jedoch gewährleistet sein, dass diese Maßnahmen diskriminierungsfrei eingesetzt werden und ihr Einsatz auf objektiven Kriterien beruhe, wie der Gesundheit der Insassen und dem Risiko, die ihre Freilassung für die Gesellschaft darstellt. Gerade das letzte Kriterium spreche dafür, Personen freizulassen, die nur wegen der Äußerung politischer Ansichten inhaftiert worden seien. Dies seien insbesondere Anwälte, Richter und Journalisten, die oftmals ohne Beweise für eine Gewalttat oder ein Verbrechen festgehalten werden. Die Parlamentarier schließen sich damit dem Aufruf der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet an, aufgrund von COVID-19 weltweit alle Personen freizulassen, die ohne hinreichende Rechtsgrundlage inhaftiert sind. Gleichzeitig riefen sie die Kommission und die Mitgliedsstaaten dazu auf, die Türkei gegebenenfalls durch den Einsatz des EU-Solidaritätsfonds zu unterstützen.

Umsetzung von Urteilen des EGMR verbessert – Europarat

Das Ministerkomitee des Europarats hat seinen jährlichen Bericht über die Vollstreckung von Urteilen des EGMR veröffentlicht. Dieser enthält Daten über neue und abgeschlossene Fälle sowie die Zahl der anhängigen Verfahren für alle 47 Mitgliedsstaaten des Europarates im Jahr 2019. Es zeigt sich, dass der zehnjährige Reformprozess – bekannt als Interlaken-Prozess – bewirkt hat, dass Fälle deutlich schneller bearbeitet werden können und die Zahl anhängiger Verfahren dadurch stetig fällt. Im Vergleich zu den Vorjahren hat sich die Rate abgeschlossener Fälle zwischen 2010 und 2019 stark verbessert, von 41% auf 108%, im Vergleich zu den eingehenden Fällen. Gleichzeitig existiert jedoch immer noch eine beträchtliche Zahl ausstehender Verfahren. Außerdem gibt es immer mehr Fälle, in denen sich Europaratsstaaten weigern, Urteile des EGMR zu vollstrecken, so dass das Ministerkomitee die Staaten an ihre Vollstreckungspflicht erinnern musste und sogar ein Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 46 EMRK einleitete. Probleme sind hier u.a. fehlende Ressourcen oder mangelnder politischer Wille bis hin zu einer klaren Ablehnung eines Urteils. Herausforderungen bestehen auch bei zwischenstaatlichen Fällen und Fällen im Zusammenhang mit ungelösten Konflikten oder Post-Konfliktsituationen.

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