Europa im Überblick, 14/2024

EiÜ 14/2024

Erste „Klimaklage“ in Straßburg erfolgreich EGMR

Zu wenig staatliche Klimaschutzmaßnahmen können einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) begründen. Dies entschied am 9. April 2024 der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (Rs. 53600/20). Im konkreten Fall klagten der Schweizer Verein der Klimaseniorinnen sowie vier Individualbeschwerdeführerinnen - alle über 80 Jahre alt -, die aufgrund ihres Alters besonders stark vom Klimawandel betroffen seien. Für zulässig erklärte der EGMR nur den Antrag des Vereins der Klimaseniorinnen, der zuvor den nationalen Instanzenzug erfolglos durchlaufen hatte. Der EGMR begründete hier die Klagebefugnis (Opfereigenschaft) in Abgrenzung zur Popularklage damit, dass die Vereinigung darauf abziele, die Rechte und (besondere) Interessen von Einzelnen gegen die Bedrohungen durch den Klimawandel zu bündeln und sah im konkreten Fall das Interesse einer ordnungsgemäßen Rechtspflege als gegeben an, da den einzelnen Personen kein effektiver Rechtsweg offen gestanden hatte. Die Schweiz habe zu wenig getan, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen und wiederholt ihre Ziele zur Reduzierung von Treibhausgasen verfehlt. Der EGMR entschied daher auf eine Verletzung von (Art. 8 EMRK, Recht auf Privat- und Familienleben) sowie des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK). Das gegen Portugal und 32 andere Staaten geführte Verfahren (39371/20; vgl. EiÜ 33/23) wurde am gleichen Tage u.a. mangels Rechtswegerschöpfung für unzulässig erklärt.

Parlament billigt umstrittenes Migrations- und Asylpaket – EP

Das EU-Parlament hat am 10. April 2024 nach langen Verhandlungen mit dem Rat das umstrittene europäische Migrations- und Asylpaket angenommen, (vgl. PM). Insgesamt sind 9 Verordnungen und eine Richtlinie beschlossen worden, die Verschär­fungen in vielfacher Hinsicht mit sich bringen (vgl. EiÜ 6/24; 1/24; 36/23; 33/23). Die besonders umstrittene „Krisen-Verordnung“, die für Krisen­si­tua­tionen insbesondere Abweichungen von der Asylver­fah­rens­ver­ordnung zugunsten der Mitglied­staaten ermöglicht, wurde mit 301 Ja-Stimmen zu 272 Nein-Stimmen und 46 Enthaltungen bestätigt. Ähnlich knapp fiel die Abstimmung zur Asylverfahrensordnung aus, welche die Durchführung von Asyl-Grenzver­fahren an den Außengrenzen wie auch die Möglichkeit der Inhaftnahme von Schutz­su­chenden vorsieht. Der DAV hatte bereits auf die erheblichen grund- und menschen­recht­lichen Bedenken hingewiesen, die mit Blick auf zahlreiche Bestim­mungen der Verord­nungs­vor­schläge unter dem Aspekt des Zugangs zum Recht bestehen, vgl. bereits DAV-SN 8/21 . Nach der förmlichen Annahme des Pakets durch den Rat werden die Gesetze 20 Tage nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft treten, sind aber erst zwei Jahre nach Inkrafttreten anzuwenden. Ob durch den neuen Rechtsrahmen der Schutz der Außengrenzen unter Wahrung der Menschenrechte verbessert und das europäische Asylsystem die Grundsätze der Solidarität und der gerechten Aufteilung von Verantwortung tatsächlich gewährleistet, bleibt abzuwarten.

Schlussanträge zum Beratungsverbot im 8. Sanktionspaket – EuGH

Die Generalanwältin am EuGH Medina hat am 11. April 2024 ihre Schlussanträge in der Rechtssache C-109/23 (Jemerak) zu dem im 8. Sanktionspaket gegen Russland enthaltenen Rechtsberatungsverbot und dessen Anwendung auf notarielle Beurkundungen von Kaufverträgen verkündet. Die Generalanwältin kommt zu dem Schluss, dass die notarielle Beurkundung eines Immobilienkaufvertrags einer in Russland niedergelassenen juristischen Person sowie dessen Vollziehung einschließlich der Verwahrung und Auszahlung des Kaufpreises, der Löschung der bestehenden Grundstücksbelastungen sowie der Eigentumsumschreibung im Grundbuch auf die neuen Eigentümer, nicht unter das in Art. 5n Abs. 2 der Verordnung Nr. 833/2014 vorgesehene Rechtsberatungsverbot fällt. Die Beurkundung umfasse keine Einbindung in den Entscheidungsprozess der Parteien,

keine rechtliche Begutachtung der Vor -und Nachteile, keine Beteiligung an Verhandlungen. Eine Belehrung über Rechte, Pflichten und Wirkung der Beurkundung stelle keine Beratung dar. Dass die Beurkundung nicht durch eine Rechtsberatung ergänzt werde, müsse das vorlegende Gericht überprüfen. Mit einem Urteil ist im Herbst zu rechnen.

Strafverfahren grenzüberschreitend übertragen: Nächster Schritt – EP

Parallele Strafverfahren gegen dieselbe Person in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten sollen künftig verhindert werden. Hierfür hat der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des EU-Parlaments am 9. April 2024 den im Trilog erzielten Kompromisstext zur Verordnung zur grenzüberschreitenden Übertragung von Strafverfahren angenommen (s. EiÜ 9/24 und 23/23). Die neue Verordnung soll einen Beitrag zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität leisten, indem das am besten geeignete Land zur Untersuchung oder Verfolgung einer Straftat ermächtigt wird. Als Kriterien für die Entscheidung über die Zuständigkeit sollen neben dem Tatort, dem Wohnsitz, dem Aufenthaltsort und der Staatsangehörigkeit der verdächtigen oder beschuldigten Personen auch berücksichtigt werden, wo sich die meisten für die Ermittlungen relevanten Beweismittel oder die meisten relevanten Zeugen befinden. Gesuche mit fehlender nationaler Rechtsgrundlage werden abgelehnt. Verdächtige und Beschuldigte sowie Opfer werden das Recht haben, innerhalb von 15 Tagen gegen eine Entscheidung über die Annahme der Übertragung des Strafverfahrens einen Rechtsbehelf einzulegen. Der DAV begrüßt das Bestreben einer einheitlichen Regelung in diesem Bereich, vgl. SN 41/2023, kritisierte aber bis zuletzt fehlende Beschuldigtenrechte, etwa selbst die Übertragung zu beantragen. Im nächsten Schritt muss die Verordnung vom Plenum des EU-Parlaments und dem Rat förmlich angenommen werden, bevor sie im Amtsblatt der EU veröffentlicht werden und in Kraft treten kann.

Jahresbericht der Europäischen Staatsanwaltschaft 2023 – EPPO

Die Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO), die 2021 zur Ermittlung, Verfolgung und Aburteilung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU ihre Arbeit aufgenommen hatte (vgl. EiÜ 20/21), legte am Mittwoch im Europäischen Parlament ihren Jahresbericht 2023 vor. Aus dem Bericht geht hervor, dass die Zahl der eingeleiteten Ermittlungen gegenüber dem Vorjahr (vgl. EiÜ 11/23) um 58% gestiegen ist, was vor allem auf die ebenfalls angestiegene Zahl der Strafanzeigen privater Parteien und nationaler Behörden zurückzuführen sein dürfte. Mit einem geschätzten Gesamtschaden von 19,2 Mrd. Euro machen weiterhin solche, die im Zusammenhang mit schwerem, grenzüberschreitendem Mehrwertsteuerbetrug stehen, trotz des Anteils von nur 17,5% an den aktiven Ermittlungen 59% des geschätzten Gesamtschadens aus. Die aktiven Untersuchungen im Zusammenhang mit den ersten NextGenerationEU-Finanzierungsprojekten mit einem geschätzten Gesamtschaden von 1,8 Mrd. Euro beweisen, dass auch neue EU-Finanzierungsprogramme in das Visier von Betrügern rücken.

Bestätigung des Europäischen Gesund­heits­da­tenraum – EP

Am 9. April 2024 haben der Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) und der Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) des EU-Parlaments den am 15. März 2024 zwischen den europäischen Co-Gesetzgebern gefundenen Kompromiss  des Verordnungstext (in Englisch) zur Errichtung eines Europäischen Gesundheitsdatenraums (European Health Data Space – EHDS) bestätigt (s. bereits EiÜ 10/24, 41/23, 18/22). Dieser soll dem effizienten Austausch und direkten Zugriff auf Gesund­heitsdaten dienen. Neben der primären Nutzung von Gesundheitsdaten für die Gesundheitsvorsorge, ermöglicht der EHDS die sekundäre Verwendung zur anonymisierten oder pseudonymisierten Weitergabe von Gesundheitsdaten für Zwecke wie der gesundheitsbezogenen Forschung. EU-Mitgliedsstaaten können Patient:innen lediglich ein Widerspruchsrecht für den Zugang auf ihre Daten einräumen. Der DAV begrüßt den EHDS als möglichen Meilenstein für ein digitales europäisches Gesundheitswesen, forderte gleichzeitig aber bestimmte und umfassende Vorgaben hinsichtlich der Datensicherheit, vgl. SN Nr. 37/22. Im nächsten Schritt muss die vorläufige Einigung vom Rat der EU und im Plenum des Europäischen Parlaments förmlich angenommen werden.

DSGVO-Verstoß: Anspruch auf Einschreiten? – EuGH

Wenn eine Datenschutzbehörde bei der Prüfung einer Beschwerde einen Verstoß gegen den Schutz personenbezogener Daten feststellt, begründet dies eine Handlungspflicht der Behörde. Zu diesem Ergebnis kam Generalanwalt Pikamäe in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache C-768/21, die am 11. April 2024 veröffentlicht wurden (vgl. PM). Sie folgten auf einen Antrag des VG Wiesbaden beim EuGH zur Klarstellung der Befugnisse und Pflichten des Datenschutzbeauftragten als „Aufsichtsbehörde“ i.S.d. Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Ein Sparkassen-Kunde hatte die Verletzung seiner personenbezogenen Daten gerügt, da eine Mitarbeiterin der Sparkasse wiederholt unbefugt auf seine Daten zugriff. Zwar bestätigte der hessische Datenschutzbeauftragte den Verstoß gegen die DSGVO, ergriff allerdings aufgrund mangelnder Gebotenheit keine Maßnahmen gegen die Sparkasse. Der Kunde forderte vor dem VG Wiesbaden, dass die Aufsichtsbehörden in jedem Fall zum Einschreiten verpflichtet werden. In seinen Schlussanträgen stellte Pikamäe fest, dass bei der Feststellung eines Verstoßes gegen die DSGVO zwar grundsätzlich eine Handlungspflicht der Aufsichtsbehörde besteht, aber ein Ermessensspielraum hinsichtlich der geeigneten Maßnahmen gegeben ist. Ein Anspruch der betroffenen Person auf den Erlass einer bestimmten Maßnahme bestehe nicht. Elementar ist, dass die Maßnahme geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist. Im nächsten Schritt wird das VG Wiesbaden ein Urteil über die Rechtssache treffen, dabei sind die Schlussanträge des Generalanwalts nicht binden.

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