Europa im Überblick, 15/18

EiÜ 15/18

Neue Rahmenbedingungen für Verbraucher: Einführung von Sammelklagen KOM

Die EU-Kommission hat am 11. April 2018 das lange angekündigte Gesetzgebungspaket „New Deal for Consumers“ vorgelegt (s. EiÜ 39/17). In einer Überarbeitung der Unterlassungsklagenrichtlinie 2009/22/EG wird vorgeschlagen COM(2018) 184, dass konkret definierte, qualifizierte Einrichtungen wie Verbraucherverbände nun auch auf Unterlassung oder Schadensersatz gerichtete Sammelklagen für Verbraucher einreichen können. Für Unterlassungsansprüche und einfache Schadensfälle ist kein Mandat des Verbrauchers erforderlich. Bei Fällen mit komplexer Bestimmung des individuellen Schadens kann eine gerichtliche Feststellung der Haftung des Unternehmers erwirkt werden, auf die sich der Verbraucher in seinem Folgeverfahren berufen kann. Außerdem sollen mit dem Richtlinienvorschlag COM(2018) 185 zur besseren Durchsetzung und Modernisierung des Verbraucherrechts mehrere Richtlinien wie z.B. die Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU abgeändert werden. Auch bei kostenlosen Dienstleistungen (z.B. Cloud-Speicherdiensten oder Email-Accounts) soll ein 14-tägiges Widerrufsrecht eingeführt werden. Um Unternehmen zu entlasten, müssen diese dem Verbraucher den Kaufpreis nach einem Widerruf erst nach Rückerhalt der Ware erstatten. Zukünftig soll außerdem ein Widerruf ausgeschlossen sein, wenn der Verbraucher die Produkte nicht nur getestet, sondern tatsächlich verwendet hat. Diese Verkürzung des Widerrufsrechts könnte in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringen.

Recht, sich selbst zu verteidigen vs. Pflichtverteidigung – EGMR

Die im portugiesischen Strafprozessrecht vorgesehene Bestellung eines Pflichtverteidigers verstößt nicht gegen die in Art. 6 Abs. 1, 3 lit. c EMRK niedergelegten Rechte auf ein faires Verfahren sowie das Recht, sich selbst zu verteidigen. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Urteil vom 4. April 2018 im Fall Correia de Matos v. Portugal mit neun zu acht Richterstimmen (application no. 56402/12). Gegenstand der Beschwerde war ein Strafverfahren wegen Beleidigung eines Richters, in dem sich der Angeklagte, der selbst Rechtsanwalt ist, nicht selbst vertreten durfte. Stattdessen bestellte das portugiesische Gericht dem Beschwerdeführer einen Pflichtverteidiger, worauf der Angeklagte nicht verzichten konnte. Der Gerichtshof stellte nun fest, dass die portugiesische Regelung zur Pflichtverteidigerbestellung im Interesse einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten, einer ordnungsgemäßen Rechtspflege und der prozessualen Waffengleichheit stehe. Gestützt sei dies durch die prozessualen Anwesenheitsrechte des Beschuldigten, sein Recht auf einen Verteidigerwechsel und seinen hinreichenden Einfluss auf die Verteidigungsstrategie. Auch habe dem Beschwerdeführer im konkreten Fall aufgrund seines früheren Verhaltens vor Gericht in anderen Verfahren die notwendige Objektivität und Sachlichkeit gefehlt. Im Übrigen liege auch kein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren vor, da der Beschwerdeführer weder eine Einschränkung seiner Verteidigungsrechte noch den Wechsel seines Pflichtverteidigers geltend gemacht habe.

Mitgliedstaaten können Uber-Dienste verbieten – EuGH

Die Mitgliedstaaten können die rechtswidrige Ausübung einer Beförderungstätigkeit wie UberPop verbieten und strafrechtlich ahnden. Dies entschied der EuGH mit Urteil vom 10. April 2018 in der Rs. C-320/16. Im vorliegenden Fall hatten die französischen Behörden der EU-Kommission entsprechende Strafvorschriften nicht vor ihrer Verabschiedung mitgeteilt. Uber France leitete daraus ab, dass sie deshalb nicht für die ihr zur Last gelegte Tat belangt werden könne. Der EuGH stellte nunmehr fest, dass für die Mitgliedstaaten gegenüber der EU-Kommission keine Mitteilungspflicht für Gesetzesentwürfe bestehe, mit denen derartige Beförderungstätigkeiten verboten und unter Strafe gestellt werden. Der EuGH legte dar, dass der in Frankreich verwendete Beförderungsdienst UberPop eine Verkehrsdienstleistung und insbesondere keinen Dienst der Informationsgesellschaft darstelle. Dementsprechend seien Verbots- und Sanktionierungsregelungen von solchen Diensten vom Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG sowie der Richtlinie 98/34/EG ausgenommen, aus denen sich eine sog. Notifizierungspflicht der Mitgliedstaaten hätte ergeben können. Bereits Ende Dezember hatte der EuGH in der Rs. C-434/15 im Rahmen eines spanischen Vorlageverfahrens entschieden, dass UberPop als Vermittlungsdienst lediglich ein integraler Bestandteil einer Gesamtdienstleistung sei, die hauptsächlich aus einer Verkehrsdienstleistung bestehe und somit auch als letztere anzusehen sei.

Fluggastrechteverordnung: Ist „wilder Streik“ ein außergewöhnlicher Umstand? – EuGH

Auch „wilde Streiks“ unter dem Vorwand von Krankmeldungen können einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne der Fluggastrechteverordnung (EG) Nr. 261/2004 darstellen. Das schlägt EuGH-Generalanwalt Tanchev in seinen Schlussanträgen vom 12. April 2018 vor (verbundene Rs. C-195/17 u.a.). Ein Großteil der Mitarbeiter der Tuifly GmbH meldete sich krank, nachdem das Unternehmen Umstrukturierungspläne bekannt gegeben hatte. Dadurch kam der Flugverkehr der Airline nahezu zum Erliegen und einige Kunden machten gerichtlich Ausgleichszahlungen nach Art. 7 der Fluggastrechteverordnung geltend. Die Tuifly GmbH lehnte eine Zahlungspflicht unter Verweis auf „außergewöhnliche Umstände“ gem. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung ab. Die Amtsgerichte Hannover und Düsseldorf hatten daraufhin den EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens gem. Art. 267 AEUV angerufen. Der Generalanwalt führte aus, dass ein solcher Streik außerhalb des gesetzlichen Rahmens stattfinde und nicht Teil der normalen Tätigkeitsausübung des betreffenden Luftfahrtunternehmens sei. Dadurch sei dieser Umstand vom Luftfahrtunternehmen nicht zu beherrschen. Wie hoch jedoch die Abwesenheitsquote sein muss, damit ein außergewöhnlicher Umstand vorliegt, sei von den nationalen Gerichten zu entscheiden. Zusätzlich müsse das nationale Gericht berücksichtigen, ob das betreffende Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um die Folgen des außergewöhnlichen Umstandes zu verhindern.

Volljährig werdende Flüchtlinge behalten Recht auf Familiennachzug – EuGH

Unbegleitete Minderjährige, die während des Asylverfahrens volljährig werden, behalten ihr Recht auf Familienzusammenführung. Entscheidend sei das Datum des Asylantrags – hier gebe es auch kein Ermessen der Mitgliedstaaten. Dies entschied der EuGH in einer Vorabentscheidung am 12. April 2018 (Rs. C-550/16). Im vorliegenden Fall war eine minderjährige Eritreerin unbegleitet in die Niederlande eingereist und nach Stellung ihres Asylantrags volljährig geworden. Ihr nach der Anerkennung des Flüchtlingsstatus gestellter Antrag auf Familienzusammenführung nach der Richtlinie 2003/86/EG wurde aufgrund ihrer eingetretenen Volljährigkeit abgelehnt. Der EuGH widersprach dieser Entscheidung nun mit der Begründung, dass die Richtlinie unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge besonders schütze. Die praktische Wirksamkeit ihres Rechts auf Familienzusammenführung dürfe nicht von der Bearbeitungszeit eines Asylantrags durch nationale Behörden abhängen. Zudem müsse Rechtssicherheit für die Minderjährigen gewahrt werden. Allerdings müsse der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer angemessenen Frist (drei Monate) nach der Anerkennung des Asylantrags erfolgen.

Deutscher Auslieferungsschutz gilt nicht für EU-Ausländer – EuGH

Deutschland durfte den wegen wettbewerbsbeschränkender Absprachen verdächtigen Italiener Piscotti an die USA ausliefern. Das entschied der EuGH mit Urteil vom 10. April 2018 in einem Vorabentscheidungsersuchen Deutschlands (Rs. C-191/16). Der Betroffene hatte sich vor dem Landgericht Berlin darauf berufen, das Auslieferungsverbot für deutsche Staatsbürger gem. Art. 16 II 1 GG müsse auch für EU-Ausländer gelten. Durch seine Auslieferung seien sein Freizügigkeitsrecht als Unionsbürger sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot gem. Art. 18 I AEUV verletzt worden. Der EuGH stellte jedoch fest, dass es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt sei, auf Grundlage verfassungsrechtlicher Normen den eigenen Staatsbürgern gegenüber Staatsbürgern anderer Mitgliedstaaten eine Sonderbehandlung einzuräumen. Er sieht diese Ungleichbehandlung als gerechtfertigt an, weil die Auslieferung verhindern solle, dass Straftäter straflos bleiben. Zwar müsse vor der Auslieferung an den ersuchenden Drittstaat dem Mitgliedstaat, dem der Betroffene angehört, die Möglichkeit gegeben werden, diesen durch den Europäischen Haftbefehl für sich zu beanspruchen. Ergreift er jedoch keine entsprechenden Maßnahmen, sei eine Auslieferung mit dem Unionsrecht vereinbar (s. auch EiÜ 27/16). Diese Bedingung wurde im vorliegenden Fall erfüllt.

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