Europa im Überblick, 15/2024

EiÜ 15/2024

Letta-Bericht: Kommt das Europäische Handelsgesetzbuch? – Rat

Der Europäische Rat hat am 18. März 2024 über den vom ehemaligen italienischen Ministerpräsident Letta vorgelegten Bericht zur Zukunft des Europäischen Binnenmarktes diskutiert. Unter dem Titel „Mehr als ein Markt - Schnelligkeit, Sicherheit, Solidarität“ fordert Letta mehr Integration in den Bereichen Finanzdienstleistungen, Energie und Telekommunikation sowie den Abbau von Hindernissen. Berufsregulierung sei in vielen Fällen wichtig, um die Erbringung qualitativ hochwertiger und vertrauenswürdiger Dienstleistungen zu gewährleisten, in anderen Fällen sei die Notwendigkeit einer Regulierung weniger klar und diene als Eintrittsbarriere. Rechtsanwälte, Ärzte und Krankenschwestern seien in allen Ländern zugelassen, Fremdenführer nur in wenigen. Ein konkreter Vorschlag ist ein künftig einheitliches europäisches Gesellschaftsrecht ein sogenannter „European Code of Business Law“. Dazu solle bestehendes Recht zunächst systematisch kodifiziert werden, dann aber auch zunehmend vereinheitlicht werden. Eine vereinfachte Europäische Gesellschaftsform soll geschaffen werden. Möglicher Gegenstand eines künftigen Codes könnten u.a. das Recht des elektronischen Geschäftsverkehrs, Gesellschaftsrechts, Wertpapierrechts, Vollstreckungsrechts, Insolvenzrechts, Bankrechts, Finanzmarktrechts, Recht des geistigen Eigentums, Arbeitsrechts und Steuerrechts sein. Der Bericht könnte das politische Mandat der Ende des Jahres 2024 neu zu bestimmenden EU-Kommission mitprägen. Im Juni wird der ehemalige italienische Regierungschef Mario Draghi einen weiteren Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der EU vorlegen.

DSGVO-Verstoß und der „immaterielle Schaden“ – EuGH

Der „Verlust der Kontrolle“ über die eigenen personenbezogenen Daten kann einen immateriellen Schaden darstellen. Dies entschied der EuGH in seinem Urteil vom 11. April 2024 (Rs C-741/21) auf eine Vorlagefrage des LG Saarbrücken. Ein Kunde der juristischen Datenbank Juris hatte der Verwendung seiner personenbezogenen Daten für Werbezwecke widersprochen und gleichwohl erneut postalisch Werbung erhalten. Daraufhin klagte er vor deutschen Gerichten auf Ersatz immateriellen Schadens. Der EuGH setzte seine Rechtsprechung zum immateriellen Schaden gem. Artikel 82 Abs. 1 DSGVO (vgl. bereits EiÜ 43/23) unter Verweis auf den 85. Erwägungsgrund der DSGVO fort, der ausdrücklich den „Verlust der Kontrolle“ zu den Schäden zählt, die durch eine Verletzung personenbezogener Daten verursacht werden können. Gleichwohl stellt der EuGH mit Blick auf Art. 82 Abs. 1 DSGVO klar, dass ein Verstoß als solcher „nicht ausreicht, um unabhängig vom Schweregrad des von dieser Person erlittenen Schadens einen „immateriellen Schaden“ im Sinne dieser Bestimmung darzustellen“. Der Gerichtshof erklärte zudem, dass für die Bemessung des Schadensersatzes eine Mehrzahl von Verstößen gegen die Verordnung, die sich auf denselben Verarbeitungsvorgang beziehen, unerheblich ist. Ferner erkannte der EuGH, dass ein Haftungsausschluss des Verantwortlichen gemäß Art. 82 Abs. 3 DSGVO unter Berufung auf das Fehlverhalten einer ihm unterstellten Person unzureichend sei. Das LG Saarbrücken muss nun im konkreten Fall entscheiden.

Verbreitung terroristischer Inhalte im Netz: Bewertung von Verordnung – KOM

Die Europäische Kommission nimmt derzeit Feedback zur Bewertung der Verordnung 2021/784 zur Bekämpfung der Verbreitung terroristischer Online-Inhalte entgegen. Bis zum 9. Mai 2024 wird der Öffentlichkeit sowie Interessenträgern Zeit gegeben, der EU-Kommission Rückmeldung zu geben. Die Verordnung, die am 7. Juni 2022 in Kraft getreten ist, soll der Verbreitung terroristischer Inhalte im Netz begegnen, indem nationale Behörden der Mitgliedstaaten ermächtigt werden, bestimmte Inhalte aus dem Netz zu entfernen. Der DAV hatte die Verordnung bereits während des Gesetzgebungsverfahrens in Stellungnahme Nr. 4/2019 aufgrund der Rechtsform der Verordnung, darin enthaltener unbestimmter Rechtsbegriffe und unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten kritisiert. Bereits im Februar 2024 hat die EU-Kommission einen Bericht über die Implementierung der Verordnung vorgelegt, in welchem sie der Verordnung einen positiven Einfluss auf die Bekämpfung der Verbreitung terroristischer Online-Inhalte zuschreibt.

Sondierung zur Judicial Training Strategy – KOM

Die EU-Kommission bittet im Rahmen einer Sondierung um Rückmeldungen von Privatpersonen und Verbänden zur Strategie für die justizielle Aus- und Fortbildung auf europäischer Ebene für den Zeitraum 2021 bis 2024, abrufbar hier. Die Sondierung soll nun die Wirkungen der Strategie bewerten und eine Bestandsaufnahme der aus der Umsetzung der Strategie gezogenen Lehren ermöglichen, um den neuen Fortbildungsbedarf und Verbesserungsmöglichkeiten für die zukünftige europäische Aus- und Fortbildungsstrategie zu ermitteln. Ziel der Strategie ist es, europaweite Standards mit Blick auf die juristische Ausbildung zu schaffen, die auf Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und gegenseitigem Vertrauen beruhen. Dazu werde für die Aus- und Fortbildung von Jurist:innen Maßnahmen zur Förderung der konkreten und wirksamen Anwendung von EU-Recht festgelegt. Eine Teilnahme ist möglich bis zum 30. April 2024.

Marke stellt Verstoß gegen die guten Sitten dar – EuG

Die Nichtzulassung der Unionsmarke „Pablo Escobar“ wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung und die guten Sitten ist nicht zu beanstanden. Dies entschied das Gericht der Europäischen Union (EuG) in seinem Urteil vom 17. April 2024 (Rs. T-255/23, auf Englisch). Die Escobar Inc., ein von Pablo Escobars Bruder gegründetes Unternehmen, hatte Klage gemäß Art. 263 AEUV gegen eine Entscheidung des Amts der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) erhoben, nachdem dieses zuvor eine Beschwerde wegen Nichtzulassung der Marke als Unionsmarke mit der Begründung abgewiesen hatte, die Verkehrskreise - hier die spanische Öffentlichkeit - würden diesen Namen mit organisiertem Verbrechen, Drogenhandel und Terrorismus in Verbindung bringen. Das EuG bestätigte die Entscheidung: Der in den Verkehrskreisen durchschnittlich verkehrende Bürger, würde die Marke vornehmlich mit den aus dem Drogenhandel erwachsenden Verbrechen und Leid in Verbindung bringen, sodass sie gegen grundlegende moralische Werte verstoße. Auch den Einwand der Klägerin, Escobar sei wegen seiner Verbrechen nie strafrechtlich verurteilt worden und folglich gelte die Unschuldsvermutung gemäß Artikel 48 der EU-Grundrechtecharta, wies das Gericht zurück, da die spanische Öffentlichkeit Escobar als Symbol des organisierten Verbrechens wahrnehme.

Zur Anwesenheit bei der Videokonferenz im Strafverfahren – EuGH

Der Einsatz von Videokonferenzen oder anderen Fernkommunikationstechniken während eines Strafverfahrens wird durch nationales Recht bestimmt – die Richtlinie zur Unschuldsvermutung im Strafverfahren 2016/343/EU schafft hierfür keinen Rechtsrahmen. Diese Position vertritt die General­anwältin am Europäischen Gerichtshof (EuGH) Medina in ihren Schluss­an­trägen vom 18. April 2024 in der Rs. C-760/22. Im Rahmen des zugrundeliegenden Vorabentscheidungsverfahrens möchte das bulgarische Gericht wissen, ob Art. 8 I der Richtlinie 2016/343/EU zur Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung die Möglichkeit verwehrt, dass ein Angeklagter im Rahmen seines Strafverfahrens per Videokonferenz am Verfahren teilnimmt, wenn es diesbezüglich keine nationale Rechtsgrundlage gibt. Der Generalanwältin zufolge wäre es in Anbetracht des begrenzten Umfangs der Harmonisierung der Richtlinie nicht angemessen, den Versuch zu unternehmen, eine umfassende Anleitung zu den Anforderungen an eine faire Verhandlung in Fernabwesenheit zu geben. In diesem Zusammenhang erlaube die Richtlinie den Mitgliedstaaten den Einsatz von Videokonferenztechnik für Verdächtige oder Angeklagte bei der Verhandlung vorzusehen, sofern das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet werde.

Speicherung von Vorstrafen nur auf klarer Rechtsgrundlage!  – EGMR

Eine fortdauernde Speicherung von Daten über eine verwaltungsrechtliche Sanktion stellt eine Verletzung des Schutz des Privatlebens gemäß Art. 8 EMRK dar, wenn sie nicht auf hinreichend vorhersehbaren Regelungen beruht. Dies entschied am 16. April 2024 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Rs. 40519/15. In dem konkreten Fall wurde ein bulgarischer Gefängniswärter von seiner Stelle entlassen, nachdem sein Arbeitgeber von einer neun Jahre zurückliegenden Verwaltungsstrafe erfahren hatte. Diese Kenntniserlangung basierte darauf, dass die physischen Unterlagen zwar der gesetzlichen Regelung entsprechend nach fünf Jahren vernichtet, die elektronischen Daten aber weiterhin gespeichert worden waren. Das bulgarische Justizministerium und die Datenschutzbehörde waren unterschiedlicher Auffassung hinsichtlich der Zulässigkeit oder gar Gebotenheit der (unbefristeten) Speicherung der elektronischen Daten. Dem EGMR zufolge können Regelungen, die selbst bei den mit ihrer Auslegung und Anwendung betrauten nationalen Behörden Verwirrung stiften, kaum als hinreichend vorhersehbar und damit als zulässige Schranke der Garantie des Art. 8 EMRK angesehen werden. Zudem hob der Gerichtshof unter Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH (vgl. Rs. C-439/19) hervor, dass die datenschutzrechtlichen Grundsätze und damit auch derjenige der Speicherbegrenzung im Zusammenhang mit strafrechtlichen Verurteilungen und Straftaten anwendbar sind.

Corrigendum zur EiÜ 14/24: In der letzten Ausgabe von Europa im Überblick ist uns ein Fehler unterlaufen. Es muss im letzten Artikel zu den Schlussanträgen in der Rs. C-768/21 natürlich heißen, dass als Nächstes der EuGH und nicht das VG Wiesbaden über die Sache entscheidet.

Europa im Überblick abonnieren

Verpassen Sie keine wichtigen rechtlichen Entwicklungen in Europa! Abonnieren Sie unseren E-Mail-Newsletter „Europa im Überblick“ und bleiben Sie stets informiert über die neuesten EU-Gesetzgebungen, Rechtsprechungen und deren Auswirkungen auf Ihre Praxis.

Kommentare

0 Kommentare zum Artikel
Was ist die Summe aus 2 und 3?