Europa im Überblick, 19/2023

EiÜ 19/2023

„Chatkontrolle“: DAV warnt vor Massenüberwachung – DAV

Der DAV unterstützt in seiner Stellungnahme Nr. 32/2023 ausdrücklich das Anliegen des Entwurfs einer EU-Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern (CSAM), (vgl. EiÜ 18/22, 14/23 und 16/23). Begrüßt wird daher die geplante Verbesserung der Zusammenarbeit und Koordinierung von Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten sowie die einheitliche Regelung der Löschung strafbarer Inhalte. Erhebliche rechtsstaatliche Bedenken hat der DAV jedoch, soweit der Entwurf auf eine Abschaffung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und eine automatisierte, massenhafte Analyse von Kommunikations(inhalts-)daten aller Nutzer:innen von bspw. Email-, Messenger- und Chat-Anwendungen, sozialen Medien oder auch Cloud-Speicherdiensten hinausläuft. Dabei ist nicht nur mit einer hohen Zahl an falschen Treffern zu rechnen, auch das anwaltliche Berufsgeheimnis wäre zwangsläufig beeinträchtigt (vgl. auch Pressemitteilung). Die Änderungen im Berichtsentwurf von Berichterstatter Javier Zarzalejos (Spanien, EVP) hält der DAV für nicht ausreichend, um die Bedenken auszuräumen (vgl. bereits EiÜ 16/23).

Berufsgeheimnisschutz bei Informationsaustausch von Steuerbehörden – Rat

Im Bereich der Zusammenarbeit und des Informationsaustauschs von Steuerbehörden könnte eine Richtlinienänderung zu einem besseren Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses führen. Der Rat der Europäischen Union hat sich am 16. Mai 2023 auf seine  allgemeine Ausrichtung zum Kommissionsvorschlag zur DAC 8-Richtlinie zur Änderung der RL 2011/16/EU zur Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden bei der Besteuerung geeinigt. Der Rat schlägt vor, Art. 8 ab Abs. 5 der DAC-Richtlinie dahingehend zu ändern, dass Anwälte, die aufgrund des Berufsgeheimnisses von der Meldepflicht befreit sind, nicht mehr verpflichtet sind, andere Intermediäre über die Meldepflichten zu unterrichten. Diese Entwicklung liegt im Sinne des DAV, der schon in seiner Stellungnahme Nr. 42/2019 darauf hinwies, dass eine Gefahr für das Berufsgeheimnis bestehe, wenn ein Intermediär verpflichtet ist, sensible Daten weiterzugeben. Der Rat nimmt in dieser Frage den Tenor des EuGH-Urteils vom 8. Dezember 2022 zur DAC 6-Richtlinie (C-694/20) auf, in dem der EuGH den Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses ausführlich thematisiert, s. dazu EiÜ 42/22.

Plenum bestätigt Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention – EP

Das EU-Parlament hat in seiner Plenarsitzung am 10. Mai 2023 für den Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt gestimmt (vgl. PM). Mit der Zustimmung der Abgeordneten zur Annahme der Beschlüsse – hinsichtlich der Verpflichtungen der Organe und der öffentlichen Verwaltung der Union (abrufbar hier) und hinsichtlich der Aspekte, die die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, Asyl und das Verbot der Zurückweisung betreffen (abrufbar hier) – ist die Parlamentsbeteiligung am Verfahren abgeschlossen. Es handelt sich um das erste internationale Abkommen, das Gewalt gegen Frauen definiert und einen umfassenden Schutzrahmen schaffen soll. Der Beitritt der EU zum Übereinkommen kann nun im nächsten Schritt durch den Rat abgeschlossen werden. Damit kämen die Mitgliedstaaten dem Wunsch der EU-Kommission und auch den wiederholten Forderungen des EU-Parlaments seit der bereits sechs Jahren anhaltenden Blockade (vgl. EiÜ 07/23) nach. Im Übrigen bleibt die Ratifizierung der Konvention durch einzelne Mitgliedstaaten davon unberührt. Zu den EU-Staaten, die das Übereinkommen des Europarats zwar unterzeichnet, aber (noch) nicht ratifiziert haben, zählen Bulgarien, Lettland, Litauen, Slowakei, Tschechien und Ungarn.

Zollreform: Transparente Lieferketten durch Zolldatenplattform – KOM

Das Versprechen Ursula von der Leyens, die Zollunion auf das nächste Level zu bringen, soll eine Reform nun einlösen. Am 17. Mai 2023 veröffentlichte die EU-Kommission einen Vorschlag über eine Verordnung, die einen EU-Zollkodex und eine EU-Zollbehörde einrichten soll. Die EU-Kommission strebt damit eine umfangreiche Reform der Zollunion an, die insbesondere den Herausforderungen des E-Commerce, zu prüfenden EU-Standards und geopolitischen Krisen Rechnung tragen soll. Die neue Zollbehörde soll die neue EU-Zolldatenplattform überwachen, welche die bisherige IT-Struktur in den Mitgliedstaaten ersetzen soll, um ein einheitlicheres Zollwesen zu schaffen. In die Zolldatenplattform sollen ab 2028 Unternehmen, die Waren in die Union einführen wollen, Informationen zu ihren Produkten und Lieferketten eingeben können. Behörden sollen so – mithilfe maschinellen Lernens und künstlicher Intelligenz – einen vollständigen Überblick über die Lieferketten und den Warenverkehr erhalten. Der bisher geltende und zu massenhaften Falschdeklarationen führende Schwellenwert für die Einfuhr von Waren von 150 Euro, ab dem erst eine Zollpflicht besteht, wird aufgehoben. Die Zolldatenplattform soll ab Anfang 2038 für alle Wirtschaftsakteure nutzbar und vollständig funktionsfähig sein. Der Vorschlag wird nun dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union zur Beratung vorgelegt.

Konsequente Haftung für Umweltverschmutzer? – KOM

Die EU-Kommission hat eine öffentliche Konsultation zur Anwendung des umweltrechtlichen Verursacherprinzips in der EU veröffentlicht, abrufbar hier. Dieses Prinzip regelt, dass diejenigen, die eine Umweltverschmutzung verursachen, auch für die Maßnahmen, welche zur Behebung und Verhinderung der Beeinträchtigung erforderlich sind, aufkommen müssen, vgl. auch Art. 191 Abs. 2 AEUV. Durch den Konsultationsprozess soll die Umsetzung des Prinzips in den Politikfeldern der EU sowie auf nationaler Ebene evaluiert werden. Dabei werden marktgestützte Ansätze sowie Verbote und Kontrollen in den Blick genommen, die Kohärenz der Umsetzung allgemein sowie die Verhältnismäßigkeit der mit der Umsetzung des Prinzips verbundenen Kosten für Verbraucher:innen und Unternehmen. Auf dieser Grundlage soll in einem nächsten Schritt eine Empfehlung für eine effektivere Umsetzung des umweltrechtlichen Verursacherprinzips erarbeitet werden. Die Möglichkeit der Teilnahme an der öffentlichen Konsultation besteht bis zum 04. August 2023.

Widerruf nach vollständiger Vertragsdurchführung – EuGH

Der Verbraucher ist auch bei einem nach vollständiger Vertragsdurchführung erfolgten Widerruf von jeder Zahlungspflicht befreit. So entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 17. Mai 2023 in der Rechtssache (Rechtssache C‑97/22) auf die Vorlagefrage des Landgerichts Essen zur Auslegung der Verbraucherrechterichtlinie (2011/83/EU). Der Verbraucher war im vorliegenden Fall nicht über sein bei einem außerhalb der Geschäftsräume des Unternehmers geschlossenen Vertrags bestehendes Widerrufsrecht nach Art 14 der Richtlinie (in dt. umgesetzt in Art. 246a EGBGB) informiert worden. Konkret ging es um die Frage, ob der Unternehmer neben seinem Vergütungsanspruch auch sein Recht auf Wertersatz verliert, wenn der Widerruf erst nach vollständiger Erfüllung des Vertrages erfolgt. In seiner Urteilsbegründung stellt der Gerichtshof fest, dass insbesondere der vom Vorlagegericht angesprochene allgemeine Rechtsgrundsatz des Verbots der ungerechtfertigten Bereicherung hier hinter dem von der Verbraucherrechterichtlinie angestrebten Zweck des hohen Verbraucherschutzniveaus zurücktreten müsse.

Keine Pflicht zur vollständigen Aussetzung des Ausgangsverfahrens – EuGH

Im Falle eines Vorabentscheidungsverfahrens besteht keine Pflicht des vorlegenden Gerichts zur vollständigen Aussetzung des Ausgangsverfahrens. Dies stellte der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 17. Mai 2023 in der Rechtssache C-176/22 klar. Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union hindere die nationalen Gerichte nicht daran, das Verfahren insoweit fortzusetzen, als nur Aspekte betroffen sind, deren Beantwortung durch die ausstehende Entscheidung durch den EuGH nicht beeinflusst werden können. Damit sind Verfahrenshandlungen gemeint, die das vorlegende Gericht nicht daran hindern, dem Urteil des EuGH im Ausgangsverfahren nachzukommen. Vorabentscheidungs- verfahren nach Art. 267 AEUV machen den weit überwiegenden Anteil aller vor dem EuGH geführten Verfahren aus.

Aberkennung des Flüchtlingsstatus wegen besonders schwerer Straftat – EuGH

Trotz der einheitlichen und autonomen Auslegung des Begriffs der „besonders schweren Straftat“ in der Richtlinie über den internationalen Schutz (2011/95/EU), bleibt den Mitgliedstaaten ein Beurteilungsspielraum. Hierzu äußerte sich Generalanwalt Jean Richard de la Tour in seinen Schlussanträgen vom 17. Mai 2023 zum Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH in der Rs. C-402/22. Das vorlegende niederländische Verwaltungsgericht schloss sich mit seinen Fragen teilweise denen des österreichischen und des belgischen Gerichts in den Rs. C-663/21 und C-8/22 (vgl. EiÜ 06/23) an. Zusätzlich bittet das Gericht um eine Konkretisierung des Begriffs der „besonders schweren Straftat“, bei deren Vorliegen einer Person, die internationalen Schutz benötigt, nach Art. 14 Abs. 4 b) der Richtlinie der Flüchtlingsstatus aberkannt werden kann. Der Generalanwalt schlägt vor, diesen Begriff dahingehend auszulegen, dass eine rechtskräftige Verurteilung wegen einer Straftat vorliegen muss, die sich durch einen außerordentlichen Schweregrad auszeichnet. Zudem fordert er für die hierauf beruhende Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft in jedem Einzelfall eine Prüfung der tatsächlichen Umstände durchzuführen, die sich insbesondere auf Kriterien wie die Art der Handlung, die Schwere der Strafe oder die Art des beeinträchtigten rechtlichen Interesses stützen sollte. Das Urteil des EuGH ist in den nächsten Monaten zu erwarten.

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