Europa im Überblick, 19/2024

EiÜ 19/2024

Asyl- und Migrationspaket endgültig verabschiedet – Rat

Die Reform des Europäischen Asylrechts ist beschlossen. Am 14. Mai 2024 gab auch der Rat der EU grünes Licht für das Paket (vgl. PM), nachdem das EU-Parlament diesem im April zugestimmt hatte, vgl. EiÜ 14/24. Die insgesamt neun Verordnungen und eine Richtlinie führen zu einer deutlichen Verschärfung des Asylrechts (vgl. dazu EiÜ 44/23; 36/23; 33/23; 22/23). Zum Beispiel sollen zwingende Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen sowie eine de-facto Inhaftierung selbst für Minderjährige eingeführt und Rechtsbehelfsmöglichkeiten verkürzt werden. Abzuwarten bleibt, inwiefern die mit der Reform ebenfalls angestrebte tatsächliche Teilung von Verantwortung unter den Mitgliedstaaten erzielt werden wird. Der DAV hatte sich u.a. mit einer Stellungnahme 8/21 in das Verfahren eingebracht und sich insbesondere kritisch hinsichtlich des beschränkten Zugangs zum Recht und zu Rechtsberatung geäußert. Einzelfallprüfungen dürften bei den vorgesehenen Grenzverfahren unter den dort gegebenen Bedingungen und der verkürzten Verfahrensdauer kaum erfolgen können, vgl. auch EiÜ 36/23. Die Vorschriften werden 20 Tage nach Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft treten, den Mitgliedstaaten bleiben jedoch zwei Jahre Zeit, um sie anzuwenden. Die EU-Kommission wird im Juni einen gemeinsamen Umsetzungsplan vorlegen, der die erforderlichen Schritte für die erfolgreiche Anwendung der zahlreichen Vorschriften durch die Mitgliedstaaten bis 2026 aufzeigen soll.

Anwaltliche Äußerung über Richter von Meinungsfreiheit gedeckt – EGMR

Am 16. Mai 2024 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Verurteilung des luxemburgischen Anwalts André Lutgen aufgrund seiner kritischen Äußerungen in Bezug auf einen Untersuchungsrichter unverhältnismäßig sei und seine Meinungsfreiheit verletze (Rs. 36681/23, in Französisch). Der Rechtsanwalt hatte in einem laufenden Verfahren den zuständigen Untersuchungsrichter mehrmals erfolglos kontaktiert, um die Aufhebung eines versiegelten Hauptstromschalters bei seinem Mandanten, einem Stahlwerk, zu erwirken. Lutgen wandte sich daraufhin an die Justiz- und Wirtschaftsminister sowie die Generalstaatsanwältin und wies auf wiederholtes Fehlverhalten des Richters hin. Dieser sah in dem Vorstoß Lutgens einen Angriff auf seine richterliche Unabhängigkeit und leitete die Informationen an die Staatsanwaltschaft weiter. Luxemburgische Gerichte verurteilten Lutgen zu einer Geldstrafe von 1.000 Euro wegen Beleidigung eines Justizbeamten. Der EGMR sah in Lutgens Äußerungen insgesamt ein Werturteil, das in einer Notsituation im Interesse seines Mandanten geäußert wurde. Die Verurteilung des Anwalts verstoße gegen das Recht auf Meinungsfreiheit aus Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Ein Fehlverhalten sei nicht festzustellen. Der Gerichtshof betonte, dass auch scharfe Äußerungen von Anwält:innen im Kontext ihrer beruflichen Tätigkeit durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sein müssen, sofern sie tatsachenbasiert sind und keine persönlichen Angriffe darstellen.

Konsultation zur steuerlichen Zusammenarbeit (DAC) – KOM

Die EU-Kommission wird die zweite Bewertung der Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung 2011/16/EU (DAC) und ihrer zahlreichen Erweiterungen vornehmen. Hierzu führt sie eine öffentliche Konsultation durch und sammelt Rückmeldungen von Interessenträgern.  Der jetzige Evaluierungs- und Berichtszeitraum betrifft die Jahre 2018-2022. Die DAC 7 und die DAC 8 sind daher nicht erfasst. Der EuGH hatte im Dezember 2022 in der Rs. C-694/20 eine Vorschrift der DAC-6-Richtlinie für ungültig erklärt, wonach Rechtsanwälte andere an einer grenzübergreifenden Steuergestaltung beteiligte Intermediäre von ihrer Meldepflicht unterrichten mussten, vgl. EiÜ 42/22. Die DAC-Erweiterungen betreffen Informationen über Finanzkonten (DAC2), grenzüberschreitende Steuervorbescheide und Vorabverständigungen über die Verrechnungspreisgestaltung (DAC3), länderbezogene Berichte (DAC4), meldepflichtige (d. h. auf ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung hindeutende) grenzüberschreitende Gestaltungen (DAC6) und Einkünfte über Plattformen (DAC7). Durch diese Anpassungen haben die Steuerbehörden auch Zugang zu bestimmten Daten zur Bekämpfung der Geldwäsche (DAC5) erhalten. Beteiligte und Interessierte sind aufgerufen, ihre Rückmeldungen bis zum 30. Juli 2024 einzureichen. Diese fließen in den Bericht der EU-Kommission ein, den sie anschließend den Co-Gesetzgebern vorlegen wird.

Statement zur Unterstützung tunesischer Anwälte – CCBE

Am 17. Mai 2024 hat der Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) im Rahmen seiner Vollversammlung in Lausanne einstimmig ein Statement zu der Situation tunesischer Anwälte verabschiedet. Dieses richtet sich gegen die kürzlich erfolgten gewaltsamen Festnahmen der Rechtsanwälte Sonia Dahmani und Mehdi Zagrouba, gegen dessen Folterung sowie die versuchte Festnahme der Rechtsanwältin Nidhal Salhi. Dahmani war wegen sarkastischen Äußerungen im Fernsehen festgenommen worden. Zagrouba war am vergangenen Montag vor Gericht anwesend, um seine Kollegin bei ihrer Vernehmung zu unterstützen. Im Anschluss wurden ihm Gewalt und verbale Angriffe gegenüber Ordnungskräften vorgeworfen, weshalb auch er festgenommen wurde. Der CCBE verurteilt neben der Gewalttätigkeit gegenüber den betroffenen Anwälten auch den Zusammenhang der Festnahmen mit der Ausübung der Meinungsfreiheit und der anwaltlichen Tätigkeit durch die Betroffenen, die diese besonders im Migrations- und Asylrecht ausüben. Er fordert die tunesischen Behörden zur Freilassung der Anwälte und zu einer vollständigen und unparteiischen Untersuchung der Vorwürfe der Folterung Zagroubas auf. Das Statement bekräftigt, dass Anwälte ihre Tätigkeit ohne Angst vor Vergeltungsmaßnahmen, Einschüchterung oder Behinderung ausüben können müssen, um die Unabhängigkeit und die Integrität der Rechtspflege und Rechtsstaatlichkeit zu wahren.

Keine nachträgliche Arbeitnehmerbeteiligung bei SE-Gründung – EuGH

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 16. Mai 2024 in der Rechtssache C-706/22 eine Entscheidung zur Arbeitnehmerbeteiligung in Europäischen Gesellschaften (SE) getroffen. Im Fokus des Verfahrens stand die vom Bundesarbeitsgericht vorgelegte Frage, ob eine SE, die durch arbeitnehmerlose Gesellschaften gegründet wurde und erst nach ihrer Eintragung die (herrschende) Kontrolle über Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern erlangte, verpflichtet ist, nachträglich ein Verhandlungsverfahren über die Arbeitnehmerbeteiligung in der SE einzuleiten. Im Ergebnis seiner Auslegung stellte der EuGH fest, dass das Verhandlungsverfahren grundsätzlich vor der Eintragung der SE stattfinden müsse. Die SE-Verordnung und die Richtlinie 2001/86/EG (zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Arbeitnehmerbeteiligung) enthielten keine Bestimmungen, die eine nachträgliche Durchführung dieses Verfahrens in einer bereits gegründeten SE vorschreiben. Die Entscheidung des EuGH wirft Fragen zum Missbrauchspotential auf: Durch die Gründung einer SE ohne Arbeitnehmer könnten Unternehmen die Verpflichtung zur Durchführung von Verhandlungen über die Arbeitnehmerbeteiligung umgehen. Artikel 11 der Richtlinie (§ 43 SEBG) gibt den Mitgliedstaaten allerdings einen Ermessensspielraum bei der Wahl der zu ergreifenden Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Gründung einer SE nicht missbräuchlich dazu verwendet wird, die Arbeitnehmerbeteiligung zu umgehen.

Entschädigung für Flugverspätung bei Personalmangel? – EuGH

Am 16. Mai 2024 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens entschieden, dass Flugverspätungen nicht automatisch eine Entschädigungszahlung für Flugpassagiere bedingen (Rs. C-405/23). Wird die Verspätung durch Personalmangel bei der Gepäckabfertigung verursacht, kann dies einen außergewöhnlichen Umstand darstellen, der eine Entschädigungszahlung ausschließen kann. Hintergrund war ein Rechtsstreit einer GmbH, die aus abgetretenem Recht zahlreicher Fluggäste nach einem verspäteten Flug, ein Luftfahrtunternehmen auf Ausgleichszahlungen gemäß Art. 5 Abs. 3 der VO (EG) Nr. 261/2004 (EU-Fluggastrechte-VO) verklagte. Der Gerichtshof definierte als „außergewöhnliche Umstände“ solche, die nicht zu den normalen Tätigkeiten des betreffenden Luftfahrtunternehmens gehören und auch nicht von diesem beherrschbar sind. So müsste es sich bei Personalmangel um eine „externe“, z.B. durch Dritte herbeigeführte Ursache handeln, die nicht zum normalen Geschäftsbetrieb der Fluggesellschaft gehöre. Weiterhin müsse die Fluggesellschaft nachweisen, dass sie erfolglos alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um die Umstände der Verspätung zu verhindern. Das vorlegende Gericht, das Landgericht Köln, wird nun prüfen müssen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.

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