Europa im Überblick, 22/2023

EiÜ 22/2023

EU stimmt für Asylverfahren an den Außengrenzen – Rat

Die Innenminister der EU haben am 08. Juni 2023 eine Einigung zu einem zentralen Teil der umstrittenen Reform des europäischen Asyl- und Migrationsrechts getroffen. Konkret haben sie zu dem Vorschlag der Asylverfahrensverordnung sowie zu dem Vorschlag über das Asyl- und Migrationsmanagement eine allgemeine Ausrichtung erzielt (siehe hier und hier) und sich damit auf die Einführung bzw. Normalisierung von Asylverfahren an den EU-Außengrenzen geeinigt. Besonders kritikwürdig ist hierbei, dass der Zugang von NGO’s und Anwält:innen zu den Antragstellern in Gewahrsamseinrichtungen und an Grenzübergangsstellen „von einer vorherigen Vereinbarung mit den zuständigen Behörden abhängig gemacht werden kann“, Art. 30 der allgemeinen Ausrichtung zur Asylverfahrensverordnung. Der DAV sowie zahlreiche andere Verbände hatten sich noch kurz vor der Abstimmung gegen die verpflichtenden Grenzverfahren ausgesprochen, da diese mit einer Inhaftnahme bzw. haftgleichen Zuständen verbunden sind und ein effektiver Zugang zum Recht nicht gewährleistet wird (siehe PM 24/23 sowie bereits DAV-SN 08/21). Das EU-Parlament hatte seine Position zur Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement vor Kurzem festgelegt (vgl. EiÜ 15/23), sodass hier nun die Trilogverhandlungen beginnen können.

Allgemeine Ausrichtung zur Anti-SLAPP-RL – Rat

Beim Treffen der EU-Justizminister 9. Juni 2023 hat der Rat seine Position zu dem Richtlinienentwurf zum Schutz vor strategischen Klagen gegen öffentliche Beteiligung („SLAPP“) festgelegt. Ziel der Richtlinie ist es, insbesondere Menschenrechtsverteidiger und Journalisten vor offensichtlich unbegründeten Klagen und missbräuchlichen Gerichtsverfahren zu schützen (vgl. bereits EiÜ 11/23; 16/22). In der allgemeinen Ausrichtung des Rates (in Englisch) wird die im Kommissionsvorschlag enthaltene Definition des grenzüberschreitenden Bezugs gestrichen. Mit Blick auf die vorzeitige Einstellung sieht der Rat eine Bezugnahme auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten vor sowie ein beschleunigtes Verfahren zur Prüfung des Antrags auf vorzeitige Einstellung, das aber das Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf berücksichtigen soll. Hinsichtlich der Bestimmung, wonach die Mitgliedstaaten eine Kostentragung der missbräuchlich klagenden Partei selbst über die in nationalen Gebührentabellen festgelegten Grenzen hinaus vorsehen sollten, sieht der Rat nun die Maßgeblichkeit der nationalen Regelungen vor. Auch die Bestimmung, wonach die beklagte Partei einen in Folge des Verfahrens erlittenen Schaden ersetzt verlangen kann, hat nach der Ratsposition keinen Bestand. Als Nächstes muss das EU-Parlament den Berichtsentwurf annehmen.

Sanktionsrichtlinie: Anwaltliches Berufsgeheimnis schützen – Rat

Der Rat der EU-Justizminister hat am 9. Juni 2023 eine allgemeine Ausrichtung zum Richtlinienvorschlag der EU-Kommission zur Definition von Straftatbeständen bei Verstößen gegen EU-Sanktionen festgelegt (s. PM). Die Tatbestände umfassen die Ausübung von verbotenen Finanztätigkeiten, die Erbringung von verbotenen Finanz- sowie anderen Dienstleistungen und Sanktionsumgehung (s. EiÜ 42/22). Nach den Mitgliedstaaten reicht für die Strafbarkeit Fahrlässigkeit nicht aus, vielmehr wird entsprechend einer Forderung des DAV Vorsatz verlangt (vgl. SN Nr. 3/2023). Die Mitgliedstaaten können außerdem in geringfügigen Fällen und bei Verstößen mit Gegenstandswert von weniger als 10.000 EUR vorsehen, dass keine Straftaten vorliegen. Anders als im Berichtsentwurf des EU-Parlaments soll das Berufsgeheimnis in der Allgemeinen Ausrichtung umfassender gewahrt werden und Ausnahmen davon nicht bereits bei Verdachtsfällen greifen (vgl. EiÜ 20/23). Ferner ist die Streichung des Tatbestands einer Verletzung der Kooperationspflicht auf Ersuchen der Behörde zu begrüßen, insoweit eine Änderung zugunsten der Selbstbelastungsfreiheit von EU-Bürgern getroffen wird.

Vergewaltigung: Minister sagen nein zum „ja heißt ja“ – Rat

Es soll keine einheitliche Regelung geben, die den Tatbestand der Vergewaltigung in der Union unter Strafe stellt. Dies macht der Rat der Europäischen Union in seiner Allgemeinen Ausrichtung zum Kommissionsvorschlag einer Richtlinie zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 9. Juni 2023 klar (vgl. PM sowie bereits EiÜ 07/23, 09/22). Die vorgeschlagene Richtlinie soll laut Kommissionsentwurf Mindeststandards zum Schutz aller Opfer geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt bieten, insbesondere im Bereich der Vergewaltigung, der weiblichen Genitalverstümmelung und der Cyber-Gewalt. In seiner Position schlägt der Rat nun unter anderem engere Anwendungsbereiche des Begriffs des Cyberstalkings und hinsichtlich der Verbreitung und Veröffentlichung intimen Bildmaterials, vor. Insbesondere nationale und unionsrechtliche Ausnahmen aus Gründen der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit sollen davon unbeschadet bleiben, soweit sie mit der Grundrechtecharta vereinbar sind. Der Vorschlag der EU-Kommission über einen einheitlichen Straftatbestand der Vergewaltigung wurde gänzlich gestrichen. Innerhalb des Rates bestand Uneinigkeit hinsichtlich der Existenz einer entsprechenden Rechtsgrundlage. Sobald in den nächsten Wochen der Bericht des Europäischen Parlaments angenommen wird, kann der Trilog beginnen.

Allgemeine Ausrichtung zur Abschöpfung von Vermögenswerten – Rat

Der Justizministerrat hat am 9. Juni 2023 eine allgemeine Ausrichtung zum Richtlinienentwurf zur Abschöpfung und Einziehung von Vermögenswerten erzielt, vgl. PM. Mit der Richtlinie soll es einfacher werden, Vermögenswerte mit kriminellem Ursprung leichter aufzuspüren und zu beschlagnahmen (vgl. zuletzt und ausführlicher EiÜ 23/22). Neben der klassischen Einziehung sollen auch temporäre Maßnahmen wie etwa vorläufiges Einfrieren geschaffen werden. Durch ein verstärktes Zusammenarbeiten zwischen den Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen soll die vermehrte grenzüberschreitende Kriminalität bekämpft werden. Da das EU-Parlament seinen Bericht bereits angenommen hat und der Aufnahme von Trilogverhandlungen zugestimmt hat, kann der Trilog nun beginnen.

Justizbarometer 2023: Zugang zur Justiz vertieft untersucht - KOM

Die Haupterkenntnisse sind dieselben wie im Vorjahr: Die Justiz ist nicht digital genug, die Wahrnehmung der Unabhängigkeit der Justiz ist in einigen Mitgliedstaaten erschüttert. Die am 8. Juni 2023 veröffentlichte elfte Ausgabe des Justizbarometers (bisher nur in Englisch verfügbar) erfasst jedoch zudem noch 16 neue Kategorien. So waren Regelungen zur Erleichterung des gleichberechtigten Zugangs zur Justiz für ältere Menschen, Opfer von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt und allgemein diskriminierungsgefährdete Personen, der Umgang nationaler Behörden mit Korruption sowie die Dauer von Verfahren in Bestechungsfällen Gegenstand der diesjährigen Ausgabe. Auch die Gehälter von Richter:innen und Staatsanwält:innen und die Ernennung der Präsident:innen der Obersten Gerichte waren erstmals Erhebungsgegenstand. Ziel des Justizbarometers ist es, über zahlreiche Indikatoren die Unabhängigkeit, Qualität und Effektivität der Justizsysteme in den Mitgliedstaaten messbar zu machen, vgl. u.a. bereits EiÜ 10/21; 25/21. Die im EU-Justizbarometer enthaltenen Angaben tragen zum Monitoring im Rahmen des Europäischen Semesters und zum jährlichen Zyklus der Rechtsstaatlichkeit bei – die Ergebnisse fließen in den Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2023 der Kommission ein, der in Kürze veröffentlicht wird.

Vertraulichkeit der Gespräche zwischen Anwalt und Mandant – EGMR

In das anwaltliche Berufsgeheimnis darf nur bei außergewöhnlichen Umständen in Fällen von Terrorismus oder organisiertem Verbrechen eingegriffen werden. So entschied der EGMR am 6. Juni 2023 in seinem Urteil zum Verfahren zweier ehemaliger Vorsitzender der türkischen HDP (Demokratische Partei der Völker) gegen die Türkei (Beschwerde-Nr. 10207/21). Die zur Zeit inhaftierten Kläger machten geltend, in ihrem Recht auf eine schnelle Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsberaubung nach Art. 5 IV EMRK verletzt zu sein. Sie hätten insbesondere keinen effektiven Rechtsbeistand gehabt, da die Gespräche mit ihren Verteidigern in der Haftanstalt überwacht worden waren. Der EGMR stellte eine entsprechende Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK fest und stützte dies unter anderem darauf, dass das Recht, sich mit seinem Anwalt auszutauschen, eine grundlegende Voraussetzung für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens nach Art. 6 III (c) EMRK ist. Nur in Ausnahmefällen ist das damit einhergehende Berufsgeheimnis zwischen Anwalt und Mandant derogierbar. Der EGMR stellte mit Verweis auf seine ständige Rechtsprechung klar, dass es sich dabei um Fälle von Terrorismus oder organisiertem Verbrechen handeln muss. Im vorliegenden Fall hätten die zuständigen Ermittlungsbehörden jedoch keine ausreichenden Beweise vorgelegt, um eine solche Ausnahme anzunehmen.

Justizreform in Polen verstößt gegen EU-Recht – EuGH

Die polnische Justizreform aus dem Jahre 2019 greift in die Unabhängigkeit von Richtern ein und verstößt gegen den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes im EU-Recht. Dies entschied der EuGH in seinem Urteil vom 5. Juni 2023 zu einer weiteren Klage der EU-Kommission gegen die Republik Polen in der Rechtssache C-204/21 (Französisch) (vgl. EiÜ 12/21, 25/21, 27/21, 34/21, 43/22). Die EU-Kommission hatte geltend gemacht, die durch die Justizreform eingeführten Gesetzesänderungen verstießen gegen die mitgliedstaatliche Verpflichtung, das Recht auf einen Rechtsbehelf und einen unparteiischen Richter zu gewährleisten, die sich aus Art. 19 EUV und Art. 47 EU-GRCh ergeben. Durch die Justizreform war es ordentlichen Gerichten in Polen untersagt worden, zu prüfen, ob die unionsrechtlichen Anforderungen eines unparteiischen, gesetzlich errichteten und unabhängigen Gerichtes gegeben seien. Hierdurch sieht der Gerichtshof das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsschutz gefährdet und den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verletzt. Der EuGH bestätigte auch, dass die Aussicht, sich einem Disziplinarverfahren ausgesetzt zu sehen, das persönlich nachteilig für die Richter wirkt, ihre Unparteilichkeit und Unabhängigkeit beeinträchtigen könnte. Darüber hinaus genüge auch die zuständige Disziplinarkammer des Obersten Gerichts nicht den Anforderungen für ein unparteiisches und unabhängiges Gericht.

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