KOMPROMISS ZUR RICHTLINIE PROZESSKOSTENHILFE IN STRAFVERFAHREN – RAT/EP/KOM
Über zweieinhalb Jahre nach Vorlage des Entwurfs konnten sich die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Rat am letzten Tag der niederländischen Ratspräsidentschaft auf einen Kompromiss zur Richtlinie zur Prozesskostenhilfe in Strafverfahren einigen (Text noch nicht öffentlich verfügbar, s. Pressemitteilung). Der Deutsche Anwaltverein hatte das Gesetzgebungsverfahren eng begleitet und begrüßt die neue Richtlinie. Der Richtlinientext umfasst einerseits die Fälle der notwendigen Verteidigung im Sinne der deutschen Strafprozessordnung. Zugleich geht er aber über diese hinaus, indem er auch bei bestimmten Ermittlungsmaßnahmen, etwa bei Tatortrekonstruktionen und Gegenüberstellungen, ein Recht auf Prozesskostenhilfe vorsieht. Zudem wird das Recht des Beschuldigten auf Prozesskostenhilfe in Fällen des Europäischen Haftbefehls gestärkt – sowohl in dem Staat, der den Haftbefehl erlässt, als auch in dem Staat, der diesen vollstreckt. Die Richtlinie betont die Unabhängigkeit der Anwaltschaft ganz ausdrücklich und verweist an zahlreichen Stellen auf die Richtlinie zum Recht auf einen Rechtsbeistand, welche derzeit in Deutschland durch das Zweite Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren umgesetzt wird. Nun müssen EU-Parlament und Rat den Kompromisstext noch formell billigen, bevor eine zweijährige Umsetzungsfrist beginnt.
LÄNDERSPEZIFISCHE EMPFEHLUNGEN GEBILLIGT – RAT
Der Rat der Staats- und Regierungschefs hat die vom Rat erörterten länderspezifischen Empfehlungen (s. EiÜ 18/16, 9/16) am 28. Juni 2016 gebilligt (s. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates). In den am 18. Mai 2016 veröffentlichten länderspezifischen Empfehlungen zum nationalen Reformprogramm Deutschlands (s. EiÜ 16/16) empfahl die Kommission u.a. in Deutschland mehr Wettbewerb im Dienstleistungssektor zuzulassen. Der Rat der EU wird die gebilligten länderspezifischen Empfehlungen noch im Juli 2016 förmlich annehmen und damit das Europäische Semester 2016 abschließen.
MEINUNGSFREIHEIT DES ANWALTS GEGENÜBER DEM GERICHT – EGMR
Eine Geldbuße, die gegenüber einem Anwalt verhängt wird, weil dieser das richterliche Verhalten als „absolut inakzeptabel“ und die bisherigen Gerichtsverhandlungen als „inhaltslos“ bezeichnet habe, stellt einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK dar. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 28. Juni 2016 in der Rechtssache Radobuljac/Kroatien (Beschwerdenr. 51000/11, nur in englischer Sprache verfügbar). Der Beschwerdeführer, ein kroatischer Anwalt, hatte in einer Beschwerde gegen eine Entscheidung eines Gerichts, eine Verhandlung zu vertagen, unter anderem das Verhalten des Richters als „inakzeptabel“ und die stattgefundenen Verhandlungen als „inhaltslos“ beschrieben. Daraufhin wurde er zu einer Geldbuße wegen Beleidigung des Gerichts und des Richters verurteilt. In seinem Urteil stellte der EGMR unter anderem fest, dass es sich entgegen der Ansicht des nationalen Gerichts nicht um einen offenen und allgemeinen Angriff auf die Autorität der Justiz gehandelt habe, sondern um eine auf den Gerichtssaal beschränkte Äußerung gegenüber dem Gericht. Auch habe sich die Äußerung des Anwalts ausschließlich auf das Verhalten des Richters im konkreten Verfahren bezogen. Eine gesellschaftliche Notwendigkeit, welche die Einschränkbarkeit des Art. 10 Abs. 2 EMRK - der auch für Äußerungen von Anwälten schütze – rechtfertige, sei nicht dargelegt worden.
VERJÄHRUNG BEI GERICHTSINTERN UNBEARBEITETEM PKH-ANTRAG – EGMR
Die Verpflichtung eines Antragstellers für Prozesskostenhilfe (PKH), der mit seinem Gesuch die Hemmung einer laufenden Verjährungsfrist nach § 204 Abs: 1 Nr. 14 BGB herbeiführen möchte, das Gericht hierauf hinzuweisen und die Bitte an das zuständige Gericht, dessen umgehende Bekanntmachung an die Gegenseite zu veranlassen, stellt für den Antragsteller gegenüber den Verpflichtungen eines bemittelten Klägers keine Diskriminierung i.S.d. Artikel 14 i.V.m. Art. 6 EMRK dar. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem Urteil vom 30. Juni 2016 in der Rechtssache Foltis ./. Deutschland (Beschwerdenr. 56778/10, nur in englischer Sprache verfügbar, s. auch Urteil des BVerfG). Der Beschwerdeführer, ein deutscher Insolvenzverwalter, hatte in einem Klageverfahren vor dem Landgericht Kassel ein PKH-Gesuch – ohne auf die Dringlichkeit der Bekanntgabe an die Beklagte hinzuweisen – kurz vor Ablauf der Verjährungsfrist beim Landgericht angebracht, welches dort erst zweieinhalb Jahre nach Eingang bearbeitet wurde. Der EGMR führte in seinem Urteil aus, dass der PKH-Antrag nicht geeignet gewesen sei, die Verjährung zu hemmen, da der Beschwerdeführer für die Veranlassung der rechtzeitigen Bekanntgabe des PKH-Antrags Sorge hätte tragen müssen und die Bekanntgabe des Gesuchs an die Gegenpartei nicht „demnächst“ veranlasst worden sei. Es handele sich auch nicht um eine unterschiedliche verfahrensmäßige Behandlung von Klagen und Prozesskostenhilfegesuchen, da auch ein bemittelter Kläger dafür Sorge tragen müsse, dass dem Gericht zeitnah der erforderliche Kostenvorschuss zur Verfügung gestellt wird und der PKH-Antragsteller damit gleichartigen Anforderungen ausgesetzt sei.
VORSCHLAG FÜR ÜBERARBEITUNG DER BRÜSSEL-IIA-VO – KOM
Die Europäische Kommission hat am 30. Juni 2016 ihren Vorschlag für eine Überarbeitung der Brüssel-IIa-Verordnung (COM(2016) 411) vorgelegt. Dieser beruhe auf einer Evaluierung der bisherigen Verordnung durch die Europäische Kommission und soll die dabei festgestellten Probleme beseitigen. Dabei hat sich die Kommission insbesondere auf kürzere Verfahrensdauern bei Kindesrückgabeverfahren bei Kindesentführungen – dieses soll durch die Verkürzung von Fristen auf maximal 18 Wochen beschränkt werden –, zügigere Vollstreckung von Entscheidungen, z.B. durch Abschaffung des Exequaturverfahrens, und die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Zentralen Behörden und den Kinderschutzbehörden konzentriert. Begleitend zum Verordnungsvorschlag wurden auch ein Q&A sowie ein Fact Sheet mit Praxisbeispielen veröffentlicht. Der Verordnungsvorschlag muss nach Art. 81 Abs. 3 AEUV einstimmig im Rat angenommen werden, das Europäische Parlament wird zum Vorschlag angehört.
GRUNDSÄTZE FÜR DOPPELBESTRAFUNGSVERBOT KONKRETISIERT – EuGH
Der Europäische Gerichtshof hat am 29. Juni 2016 im Fall Kossowski (Rs. C-486/14) festgestellt, dass ein Tatverdächtiger erneut wegen derselben Tat verfolgt werden kann, wenn die frühere Strafverfolgung in einem anderen Schengen-Staat ohne eingehende Ermittlungen eingestellt wurde. Das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem) gemäß Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen in Verbindung mit Art. 50 GRCh sei dahingehend auszulegen, dass eine rechtskräftige Entscheidung nur dann vorliege, wenn eine Prüfung in der Sache erfolgt sei. Indiz für das Fehlen einer solchen sei es, wenn sowohl die Vernehmung des Geschädigten als auch des Zeugen unterblieben sei. Der Grundsatz ne bis in idem schütze den Betroffenen nicht davor, dass gegen ihn wegen derselben Tat in mehreren Schengen-Staaten Ermittlungen durchgeführt werden. In dem vorliegenden Fall hatte die Staatsanwaltschaft Hamburg die Eröffnung des Verfahrens wegen schwerer räuberischer Erpressung gegen einen Angeschuldigten beantragt. Gegen diesen wurde jedoch wegen derselben Tat ein Ermittlungsverfahren in Polen durchgeführt, welches mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt wurde, ohne dass zuvor eine Vernehmung des Geschädigten oder des Zeugen erfolgt war.
SONDERAUSSCHUSS LEGT BERICHT ZU STEUERVERMEIDUNG VOR – EP
Am 21. Juni 2016 hat der Sonderausschuss für Steuervorbescheide und andere Maßnahmen ähnlicher Art oder Wirkung (TAXE2) den Bericht der beiden Co-Berichterstatter Jeppe Kofod (S&D) und Michael Theurer (ALDE) mit 25 zu 6 Stimmen bei 9 Enthaltungen angenommen. Unter anderem werden darin eine einheitliche Definition von unkooperativen Gebieten und eine „schwarze Liste von Steueroasen“ sowie Maßnahmen gegen den Missbrauch von sogenannten „Patent-Boxen“ zur Steuervermeidung gefordert. Am 5. Juli 2016 wird der Bericht nun im Plenum des Europäischen Parlaments diskutiert, für den 6. Juli 2016 ist dann die Abstimmung geplant. Der TAXE2-Ausschuss führt die Arbeit des nach den LuxLeaks-Enthüllungen ins Leben gerufenen Sonderausschusses für Steuervorbescheide und andere Maßnahmen ähnlicher Art oder Wirkung (TAXE) fort (vgl. EiÜ 36/15 und 39/15).
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