MEINUNGSFREIHEIT SCHÜTZT DEN ANWALT VOR STRAFE NICHT – EGMR
Anwälte dürfen aufgrund ihrer besonderen Stellung als Vermittler zwischen Öffentlichkeit und Gerichten ihre Meinung im Rahmen akzeptabler Kritik über einzelne Richter frei äußern, wenn die Kritik auf einer soliden Tatsachengrundlage beruht. Dies hat der EGMR am 30. Juni 2015 im Fall Peruzzi/Italien (Beschwerdenr. 39294/09) entschieden. Beschwerdeführer war ein italienischer Anwalt, der in einem Rundschreiben einen Richter der Missachtung des richterlichen Berufsrechtes kritisiert hatte und daraufhin wegen Verleumdung zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Der EGMR stellte nun fest, das Strafurteil beeinträchtige zwar die freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK, sei jedoch zum Schutze des Rufs anderer und zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung gerechtfertigt. Es gälten die vom Gerichtshof aufgestellten spezifischen Grundsätze für die Rechtsberufe, s. u. a. Steur/Niederlande (Beschwerdenr. 39657/98). Diese sollten das öffentliche Vertrauen in die Justiz fördern und damit zu einem reibungslosen Funktionieren der Gerichtsbarkeit beitragen. Die gewissenhafte Aufgabenerfüllung der Richter dürfe durch anwaltliche Kritik nicht übermäßig gestört werden. Notwendig sei daher ein Schutz vor verbalen Attacken, obgleich die Grenzen einer akzeptablen Kritik an einem Richter mitunter weiter sein könnten als gegenüber Privatpersonen.
URHEBERRECHTSREFORM: JETZT DOCH MIT PANORAMAFREIHEIT – EP
Das Plenum des Europäischen Parlaments hat am 9. Juli 2015 den Bericht der Berichterstatterin Julia Reda (Piratenpartei) über die Umsetzung der Urheberrechtsrichtlinie 2001/29/EG mit großer Mehrheit und einigen Änderungen angenommen (s. Pressemitteilung). Wie von der Berichterstatterin gefordert – und anders als vom Rechtsausschuss am 16. Juni votiert (s. EiÜ 22/15) – erteilten die Parlamentarier der Einschränkung der Panoramafreiheit, also der Freiheit, Abbildungen des öffentlichen Raums uneingeschränkt verwenden zu dürfen, eine klare Absage. Nach dem nun angenommenen Bericht soll Geo-Blocking bald der Vergangenheit angehören. Einen Änderungsantrag zur Prüfung eines Leistungsschutzrechts für Presseverleger lehnte das Plenum ab. Der Bericht ist nicht bindend für die EU-Kommission, die ihre Reformvorschläge zum Urheberrecht für Ende des Jahres 2015 angekündigt hat.
TTIP: NEUES VERFAHREN ANSTELLE VON ISDS GEFORDERT – EP
Am 8. Juli 2015 hat das Plenum des EU-Parlaments eine Entschließung mit Empfehlungen an die EU-Kommission zu den Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) angenommen. Nachdem die Abstimmung zunächst verschoben worden war (s. EiÜ 22/15, 20/15), wurde ein im Plenum tragfähiger Kompromiss zu Investor-Staat-Streitbeilegungsmechanismen (investor-state dispute settlement, ISDS) gefunden. Demnach soll ISDS durch ein „neues Verfahren für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten“ ersetzt werden. Dieses soll insbesondere öffentliche Verfahren vorsehen, die von öffentlich bestellten, unabhängigen Berufsrichtern geführt werden. Eine Berufungsinstanz soll dabei sowohl die Kohärenz richterlicher Urteile als auch die Achtung der Rechtsprechung der Gerichte der EU und der Mitgliedstaaten sicherstellen. Außerdem wird gefordert, „sicherzustellen, dass ausländische Investoren nicht diskriminierend behandelt werden, ohne dass sie dabei über größere Rechte als inländische Investoren verfügen“.
AKTIONÄRSRECHTERICHTLINIE: VERHANDLUNGEN KÖNNEN BEGINNEN – EP
Das Plenum des Europäischen Parlaments hat am 8. Juli 2015 über Änderungsanträge zum Vorschlag zur sogenannten Aktionärsrechterichtlinie (COM(2014)213) abgestimmt (siehe zum Bericht des Rechtsausschusses EiÜ 17/15). Dabei hat das Parlament die erste Lesung noch nicht durch eine Abstimmung abgeschlossen, da es zunächst in Verhandlungen mit dem Rat einen Kompromiss zur endgültigen Fassung der Richtlinie finden möchte. Die Parlamentarier fordern insbesondere die Einführung einer Pflicht zur länderspezifischen Berichterstattung. So sollen große Unternehmen und solche von öffentlichem Interesse bestimmte Auskünfte zur Besteuerung erteilen, großen Unternehmen soll darüber hinaus eine Verpflichtung zur Offenlegung von Informationen zu Steuervorbescheiden auferlegt werden.
INTEGRATIONSPRÜFUNG VOR FAMILIENZUSAMMENFÜHRUNG – EUGH
Ein Mitgliedstaat kann von Drittstaatsangehörigen im Rahmen des Rechts auf Familienzusammenführung die erfolgreiche Ablegung einer Integrationsprüfung verlangen, so der EuGH am 9. Juli 2015 in der Rs. C-153/14. Das oberste Verwaltungsgericht der Niederlande hatte die Frage vorgelegt, ob die in den Niederlanden bestehende mit 1000 EUR bußgeldbewehrte Integrationspflicht mit der Richtlinie 2003/109/EG betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen vereinbar sei. Nach Ansicht des Gerichts ist dies der Fall, wie ein Umkehrschluss aus Art. 7 Abs. 2 Unterabs.2 der vorbezeichneten Richtlinie zeige, der im Falle des Nachzugs von Flüchtlingen Integrationsmaßnahmen erst nach Gewährung einer Familienzusammenführung zulässt. Im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes können solche Maßnahmen jedoch nur dann rechtmäßig sein, wenn die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung nicht unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werde. Vielmehr müsse die Integration der Familienangehörigen des Zusammenführenden erleichtert werden. Demnach sei es rechtmäßig Grundkenntnisse der Sprache und der Gesellschaft zu verlangen. Darüber hinaus könne man generell auch Kosten für diese Prüfung verlangen – Kosten in Höhe von 460 EUR wurden im konkreten Fall jedoch als unverhältnismäßig angesehen. Ebenso sei eine Integrationsprüfung unverhältnismäßig, die keine Befreiungsmöglichkeit wegen besonderer individuelle Umstände wie Alter, Bildungsniveau, finanzielle Lage oder Gesundheitszustand vorsieht.
WENIGER VERTRAGSVERLETZUNGSVERFAHREN IN EUROPA – KOM
Die EU-Kommission hat am 9. Juli 2015 ihren 32. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts im Jahr 2014 veröffentlicht, dieser belegt: in den letzten fünf Jahren haben EU-Staaten immer seltener gegen EU-Recht verstoßen. Die Kommission führt das auf den sog. „strukturierten Dialog“ mit den Mitgliedstaaten im Rahmen des EU-Pilot-Verfahrens zurück, das stattfindet, bevor ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wird. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Vertragsverletzungsverfahren wegen verspäteter Umsetzung allerdings gegenüber 2013 um 22 Prozent gestiegen. Die meisten Vertragsverletzungsverfahren liefen insgesamt gegen Griechenland (89), Italien (89) und Spanien (86). Gegen Deutschland gab es Ende 2014 68 offene Vertragsverletzungsverfahren. Am besten wurden EU-Rechtsvorschriften in Ungarn (10), Estland (16) und Malta (18) umgesetzt. Zu Deutschland hat die Kommission ein nationales Factsheet veröffentlicht, laut dem die Anzahl der Vertragsverletzungsverfahren insgesamt und der durch verspätete Umsetzung verursachten Verfahren 2014 ebenso angestiegen ist wie die Zahl der Pilot-Verfahren. (s. bereits zum Berichtsjahr 2013 EiÜ 32/14).
AUF DEM WEG ZU EINEM EUROPÄISCHEN ZIVILPROZESSRECHT – EP
Die Kodifizierung europäischer zivilprozessrechtlicher Mindeststandards könnte das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Justizsysteme der anderen Staaten weiter stärken. Dies u.a. besagt eine Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Europaparlaments (EPRS) zum Thema „Europäisierung des Zivilprozessrechts – Hin zu gemeinsamen Standards?“. Die Abschaffung des Exequaturverfahrens in der im Januar 2015 in Kraft getretenen „Brüssel Ia“-Verordnung Nr. 1215/2012 habe den freien Verkehr von Urteilen deutlich gestärkt. Erforderlich sei deshalb auch ein erhöhtes gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Justizsysteme. Dies sei teilweise bereits durch die Einführung europaweiter Verfahren wie des Verfahrens für geringfügige Forderungen (Small claims), des europäischen Mahnverfahrens oder der grenzüberschreitenden vorläufigen Bankkontenpfändung erreicht worden. Vor allem aber würde eine weitere Harmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten – anders als die vorbezeichneten optionalen Verfahren – mehr Vertrauen schaffen. Auf der einen Seite könnten auf Grundlage des Art. 114 AEUV sektorspezifische Harmonisierungsmaßnahmen verabschiedet werden. Zum anderen können bei Vorliegen eines grenzübergreifenden Sachverhalts auch nach Art. 81 AEUV horizontale Maßnahmen vorgesehen werden. Schließlich könnten auch Mindeststandards des Zivilprozessrechts – wie bereits im Bereich der Prozesskostenhilfe oder der Mediation geschehen - in einer allgemeinen europäischen Richtlinie festgesetzt werden.
EIÜ-BEZUG – HINWEISE
Zum Bezug der EiÜ genügt eine kurze Nachricht an bruessel@eu.anwaltverein.de unter Angabe des örtlichen Anwaltvereins. Die EiÜ ist auch im Internet abzurufen (im pdf-Format) unter: http://www.anwaltverein.de/leistungen/europa-im-ueberblick. Für einen französischen oder spanischen Überblick über anwaltsrelevante EU-Themen („Europe en bref“ bzw. „Europa en breve“) wenden Sie sich bitte an unsere Kollegen von der Délégation des Barreaux de France unter dbf@dbfbruxelles.eu bzw. vom Consejo General de la Abogacía Española unter bruselas@abogacia.es.
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