Europa im Überblick, 27/2022

EiÜ 27/2022

Rechtsstaatlichkeitsbericht 2022: Deutsche Justiz ausbaufähig – KOM

Die EU-Kommission hat am 13. Juli 2022 ihren dritten Rechtsstaatlichkeitsbericht (in Englisch) veröffentlicht (vgl. auch DAV-Pressemitteilung 22/22). Dieser analysiert die Situation in den Mitgliedsstaaten anhand von vier Kriterien: Justizwesen, Korruptionsbekämpfung, Medienfreiheit und Gewaltenteilung. Dieses Jahr werden erstmalig konkrete Handlungsempfehlungen an die Mitgliedsstaaten gerichtet (vgl. EiÜ 05/22). Hauptforderung an Deutschland ist dabei der Ausbau der mangelhaften Ausstattung der Justiz, insbesondere hinsichtlich Digitalisierung und Personal – ein Problem, das bereits im Bericht für das Vorjahr thematisiert wurde (vgl. EiÜ 25/21). Die Kommission greift damit einen Kritikpunkt des DAV auf, den er in Stellungnahme 02/2022 (in Englisch) zum diesjährigen Bericht bemängelt hat (vgl. EiÜ 14/22). Positiv hervorgehoben werden wieder das große Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz und die allgemein positive Lage der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland. Basierend auf dem Rechtsstaatlichkeitsbericht sollen EU-Parlament und Rat nun den Dialog in der EU und mit den Mitgliedsstaaten aufnehmen.

Öffentliche Konsultation zur Zwangslizensierung von Patenten – KOM

Die EU-Kommission möchte die Zwangslizenzierung von Patenten innerhalb des europäischen Binnenmarktes harmonisieren und hat hierzu eine Öffentliche Konsultation gestartet. Der DAV hat sich in der Stellungnahme 20/2022 bereits an der Folgenabschätzung der EU-Kommission beteiligt. Darin sieht er die Schaffung eines EU-weiten Systems zur Zwangslizenzierung kritisch und schlägt stattdessen nichtlegislative Maßnahmen vor. Die Initiative ist Teil des Aktionsplans der Kommission für Geistiges Eigentum vom November 2020 (vgl. EiÜ 07/22; 38/20). Die Zwangslizenzierung von Patenten ist durch das TRIPS-Abkommen der WTO erlaubt und wird von den Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene umgesetzt. Für Patente an der Herstellung von pharmazeutischen Erzeugnissen für die Ausfuhr in Länder mit Problemen im Bereich der öffentlichen Gesundheit (Art. 31a TRIPS) gilt bereits die EU-Verordnung (EG) Nr. 816/2006. Im Rahmen der Öffentlichen Konsultation können sich Interessensträger insbesondere dazu äußern, ob sie die bestehenden nationalen Regelungen und die EU-Verordnung als effektiv erachten, welche Verfahren für die Erteilung von Zwangslizenzen in Krisenzeiten wirksam wären und welche Hindernisse für die Herstellung eines Produkts im Rahmen einer Zwangslizenz gesehen werden. Die Möglichkeit der Teilnahme an der Öffentlichen Konsultation besteht bis zum 29. September 2022.

Veröffentlichung des Asylberichts 2022 – EUAA

Die Europäische Asylbehörde (EUAA) hat Ende Juni ihren jährlichen Asylbericht veröffentlicht. Schwerpunkte des Berichts waren dieses Jahr die Digitalisierung, die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Asylsysteme und die Ankunft afghanischer Schutzsuchender. Insbesondere beanstandeten Menschenrechtsorganisationen die Bedingungen inhaftierter Asylbewerber im Hinblick auf den Zugang zu medizinischer Versorgung, die Fläche der Zellen sowie die eingeschränkte Handynutzung in der Haft. Zudem sei die Inhaftierung teils unverhältnismäßig oder willkürlich. So hatten Geflüchtete teils nur beschränkten Zugang zu Rechtsinformationen an der Grenze und in Aufnahmeeinrichtungen. In Deutschland werden seitens zivilgesellschaftlicher Organisationen die Flughafenverfahren weiterhin aufgrund der mangelnden Zeit für den Zugang zu Rechtsinformationen und -beistand kritisiert. Das BverfG hatte die Flughafenverfahren für verfassungsgemäß erklärt (2 BvR 1516/93). Der Bericht thematisiert auch die derzeit beim EuGH (C-564/21) anhängige Vorlagefrage des VG Wiesbadens über den Umfang der Akteneinsicht.

Europäische Normungsstrategie: Einfluss von Drittländern – EP

Der Einfluss von Drittländern beim Entscheidungsprozess europäischer Normen soll begrenzt werden. Dies sieht der im Februar diesen Jahres präsentierte Änderungsvorschlag der EU-Kommission zur Normungsverordnung (EU) 1025/2012 vor. Der Vorschlag ist Teil der am 2. Februar 2022 vorgestellten Normungsstrategie (vgl. EiÜ 04/22). Die bestehende Zusammenarbeit der europäischen Normungsorganisationen mit Interessenträgern aus Drittstaaten wird zwar im Grundsatz begrüßt, es soll jedoch sichergestellt werden, dass die wesentlichen Entscheidungsprozesse ausschließlich in der Hand der Vertreter der nationalen (europäischen) Normungsorganisationen liegen. Dieses Ziel wird durch den im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) am 12. Juli 2022 angenommen Bericht (in Englisch) unterstützt. Der Rat hat diesbezüglich bereits im Mai 2022 seinen Standpunkt (in Englisch) festgelegt und den Kommissionsvorschlag gebilligt. Über den Berichtsentwurf muss nun noch im Plenum des EU-Parlaments abgestimmt werden, bevor anschließend die interinstitutionellen Verhandlungen beginnen können.

Angemessene Mindestlöhne kommen – EP

Nachdem sich Parlament und Rat am 6. Juni 2022 auf einen Kompromiss (in Englisch) zum Richtlinienvorschlag über angemessene Mindestlöhne geeinigt haben (vgl. EiÜ 22/22), hat der federführende Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) diesen nun angenommen. Die Ko-Berichterstatter Dennis Radtke (EPP) und Agnes Jongerius (S&D) begrüßen die vorläufige Einigung, die das Tarifvertragsrecht stärkt und einen Referenzrahmen für angemessene Mindestlöhne festlegt (vgl. EiÜ 35/21). Eine wichtige Änderung konnte das Parlament außerdem bzgl. der Pflicht zur Aufstellung eines Aktionsplans zur Erhöhung der Tarifbindung durchsetzen. Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission sah diese Pflicht für alle Länder vor, in denen die Tarifbindung unter 70 % liegt. Während der interinstitutionellen Verhandlungen stimmten Kommission und Rat dem Änderungsvorschlag des Parlaments zu, den Grenzwert auf 80 % zu erhöhen. Der Rat hat der Einigung bereits am 13. Juni 2022 zugestimmt. Bevor die Richtlinie in Kraft treten kann, muss das Parlament nach der Sommerpause im Plenum zustimmen.

Zur Erfüllung von Auslieferungsersuchen eines Drittstaats – EuGH

Die Auslieferung eines Unionsbürgers an einen Drittstaat ist nur bei fehlender Alternative zulässig. Diese Ansicht vertritt Generalanwalt de la Tour in seinen Schlussanträgen vom 14. Juli 2022 (Rs. C-237/21). Vorausgegangen war eine Vorlagefrage des OLG München anlässlich eines an Deutschland gerichteten Auslieferungsersuchens der bosnisch-herzegowinischen Behörden zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe. Betroffen ist ein kroatischer Staatsangehöriger, der seit 2017 in Deutschland lebt. Nach Ansicht des OLG sei Deutschland nach dem Europäischen Auslieferungsabkommen zur Auslieferung verpflichtet. Dies könnte allerdings gegen das Diskriminierungsverbot von EU-Bürgern verstoßen (Art. 18 und 21 AEUV, vgl. Rs. C-247/17), da die Auslieferung deutscher Staatsangehöriger an einen Drittstaat gem. Art. 16 II GG verboten ist. Von zentraler Bedeutung sei hier die Abwägung der drohenden Gefahr der Straflosigkeit mit Art. 18 und 21 AEUV. De la Tour argumentiert angesichts dessen für einen Mittelweg: Das Auslieferungsersuchen eines Drittstaats dürfe erst erfüllt werden, wenn für den ersuchten Mitgliedsstaat keine anderweitige Möglichkeit besteht, die Vollstreckung der Strafe in seinem Hoheitsgebiet durchzuführen. Der Gerichtshof ist nicht an die Schlussanträge gebunden, das Urteil wird in wenigen Monaten folgen.

Achtung des „Gesamtschutzes“ von Leiharbeitnehmer:innen – EuGH

Generalanwalt Anthony Collins hat sich in seinen Schlussanträgen vom 14. Juli 2022 mit dem Schutz von Leiharbeitnehmer:innen beschäftigt. Anlass waren die Vorlagefragen des Bundesarbeitsgerichts in Bezug auf die Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit (Rs. C-311/21) und das deutsche Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Collins argumentierte, dass der in Art. 5 III der Richtlinie geforderte Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern auch dann gewährleistet sei, wenn in einem Tarifvertrag zwar vom Grundsatz der Gleichbehandlung (Art. 5 I der Richtlinie) abgewichen werde, hierfür aber angemessene Ausgleichsvorteile in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewährt würden. Dies gelte auch für eine Abweichung in Bezug auf das Entgelt, hierbei seien aber besonders strenge Anforderungen an den Ausgleich zu stellen. Zur Unionsrechtskonformität des deutschen Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes wurde keine Aussage getroffen, da bereits eine detaillierte Regelung seitens des nationalen Gesetzgebers zu den durch die Sozialpartner zu erfüllenden Bedingungen nicht notwendig sei. Um die Leiharbeitsrichtlinie effektiv durchzusetzen sei es außerdem notwendig, dass nationale Gerichte Tarifverträge im Hinblick auf den Schutz von Leiharbeitnehmer:innen uneingeschränkt überprüfen können. Der EuGH ist an die Schlussanträge nicht gebunden.

Europa im Überblick macht Sommerpause – DAV

Mit dieser Ausgabe unseres Newsletters verabschieden wir uns in die Sommerpause und wünschen allen Leser:innen eine gute und erholsame Zeit. Die nächste Ausgabe wird voraussichtlich in der ersten Septemberwoche 2022 erscheinen.

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