EiÜ 27/2023
EU-US-Datenschutzrahmen: Neuer Angemessenheitsbeschluss – KOM
Die EU-Kommission hat am 10. Juli 2023 einen neuen Angemessenheitsbeschluss für den EU-US-Datenschutzrahmen erlassen (vgl. Pressemitteilung). Mit dem Beschluss nach Art 45 DSGVO bestätigt sie, dass bei der Übermittlung personenbezogener Daten von Unionsbürgern in die Vereinigten Staaten ein der EU äquivalentes Schutzniveau besteht. Es handelt sich mittlerweile um den dritten Angemessenheitsbeschluss, da die beiden vorherigen Beschlüsse vom Europäischen Gerichtshof für ungültig erklärt wurden, s. Urteile „Schrems“ I und II (vgl. EiÜ 34/22; 12/22). Laut EU-Kommission erfüllt der nun angenommene Rechtsrahmen mit verbindlichen Garantien die Anforderungen des EuGH, der insbesondere den weitreichenden Zugang von US-Nachrichtendiensten zu EU-Daten kritisiert hatte. Vorgesehen ist die Beschränkung für staatliche Datenzugriffe auf ein zum Schutz der nationalen Sicherheit notwendiges und verhältnismäßiges Maß. Auch das EU-Parlament hatte Bedenken an der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht geäußert und in einer Entschließung die fehlende Gewährleistung eines unabhängigen und unparteiischen Rechtsschutzmechanismus bemängelt (vgl. EiÜ 18/23; 14/23). Nach dem Beschluss wird ein Gericht zur Datenschutzkontrolle geschaffen, das zum Treffen verbindlicher Entscheidungen sowie Anordnen der Löschung von Daten bei festgestellter rechtswidriger Erhebung befugt sein wird.
Community-Rechtsberater bald auch in der EU? – UNSR
Die UN-Sonderberichterstatterin (UNSR) der Vereinten Nationen für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, Margaret Satterthwaite, beabsichtigt, den Zugang zum Recht zu verbessern, indem sie das Ökosystem der juristischen Berufe erweitert und die Rolle der "Nicht-Anwälte" fördert. Ihr Bericht mit dem Titel „Reimagining justice: confronting contemporary challenges to the independence of judges and lawyers“ wurde bereits am 26. Juni 2023 im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen vorgestellt. Demnach sollen „für einige wenige" geschaffene Systeme künftig zugängliches, erschwingliches und hochwertiges Recht für alle bieten. Dort wo der Bedarf am größten sei, etwa in ländlichen oder marginalisierten Gebieten, seien Anwälte rar und teuer. Außerdem könne die Ausbildung bei Anwält:innen dazu führen, Probleme zu technisch und isoliert zu betrachten sowie den menschlichen, familiären und kulturellen Kontext zu vernachlässigen. Außerdem gebe es häufig Eintrittshürden in den Beruf, die besonders schwerwiegend seien.Sogenannte „community paralegals“ bzw. „barefoot lawyers” könnten den Kontext häufig besser verstehen, hierdurch besseren Zugang zum Recht gewähren und „unmet legal needs“ erfüllen. Die besondere Rolle der Anwälte im Rechtssystem soll gleichwohl voll anerkannt und geschützt werden. Der nächste thematische Bericht „Legal Empowerment“ der UNSR soll sich vertieft auch diesem Thema widmen. Er soll der UN-Generalversammlung im Oktober/November 2023 vorgestellt werden.
Opferrechte: Besserer Zugang zur Justiz, bessere Entschädigung – KOM
Der Zugang zur Justiz soll für Opfer von Straftaten einfacher werden, indem diese vor Gericht stärkere emotionale und informationelle Unterstützung erhalten. Unabhängig von ihrem Status im Verfahren sollen Opfer zudem in die Lage versetzt werden, Entscheidungen im Strafverfahren, die ihre Rechte betreffen, anzufechten. All dies sieht die EU-Kommission in ihrem Richtlinienentwurf zur Änderung der Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU vor. Eine effektivere Entschädigung der Opfer soll sichergestellt werden, indem ihnen sofort nach dem Urteil eine Entschädigung garantiert wird und diese im Rahmen des Strafverfahrens erwirkt werden kann. Weiter sollen Opfer noch besser über ihre Rechte aufgeklärt werden. Durch individuelle Begutachtung und neue Schutzmaßnahmen soll auch besser auf die besonderen Bedürfnisse von schutzbedürftigen Opfern (wie Kindern, älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen, Opfern von Hassverbrechen oder in Haft befindlichen Opfern) eingegangen werden. Die geänderte Richtlinie folgt auf eine öffentliche Konsultation (EiÜ 10/22) und eine Opferrechtestrategie (s. EiÜ 24/20). Sie wird nun dem Rat und dem Europäischen Parlament für die Verhandlung im weiteren Gesetzgebungsverfahren zugeleitet.
Bericht zu SLAPP-Klagen im Plenum angenommen – EP
Das Plenum des EU-Parlaments hat seine Position zu dem Richtlinienvorschlag zum Schutz vor missbräuchlichen sowie offensichtlich unbegründeten Klagen („SLAPP“) am 11. Juli 2023 angenommen. Die Richtlinie soll dem Schutz von Journalisten und anderen Personen, die am öffentlichen Diskurs teilnehmen, vor Klagen dienen, die zuvörderst der Einschüchterung dienen und somit keine legitime Rechtsverfolgung darstellen (vgl. EiÜ 25/23, 11/23, 16/22). Das EU-Parlament fordert in seinem Bericht u.a. Schulungen für die Rechtsberufe zum Umgang mit missbräuchlichen Klagen sowie die Einrichtung entsprechender Kontaktstellen für Opfer von SLAPP-Klagen. Auch enthalten ist ein gegenüber dem Kommissionsvorschlag neues Kapitel zur Zuständigkeit, dem anwendbaren Recht und dem Verhältnis zu Regelungen des internationalen Privatrechts. Ferner macht sich das EU-Parlament für eine vollständige finanzielle Entschädigung des Beklagten stark, d.h. einschließlich sämtlicher Rechtsverfolgungskosten. Da der Rat sich bereits im Juni positioniert hatte (vgl. Allgemeine Ausrichtung, in Englisch) können nun die Trilogverhandlungen zwischen EU-Parlament, Rat und der EU-Kommission beginnen.
Kein Individualschutz der Benachrichtigung bei Massenentlassung – EuGH
Der in der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG vorgesehenen Verpflichtung des Arbeitgebers (Art. 2 Abs. 3 UA 2), im Falle einer Massenentlassung der zuständigen Behörde -hier der Agentur für Arbeit- eine Abschrift der an die Arbeitnehmervertretung gerichtete Mitteilung zu übermitteln, kommt keine individualschützende Wirkung zugunsten der Arbeitnehmer zu. Dies entschied der EuGH am 13. Juli 2023 in seinem Urteil zu den Mitteilungspflichten des Arbeitgebers im Zusammenhang mit einer Massenentlassung (Rs. C-134/22). Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte den EuGH mit dieser Frage befasst, um zu klären, ob ein Verstoß gegen diese Verpflichtung die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge haben müsse. Laut EuGH dient die Verpflichtung der Behörde die in der Richtlinie aufgeführten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung an die Behörde zu übermitteln, lediglich Informations- und Vorbereitungszwecken. Der zuständigen Behörde (Agentur für Arbeit) komme durch diese Benachrichtigung im Vergleich zu anderen Bestimmungen der Richtlinie keine aktive Rolle im Sinne einer unmittelbaren Verpflichtung zu. Sie solle durch Art. 2 Abs. 3 UA 2 nur in die Lage versetzt werden, die negativen Folgen der beabsichtigten Massenentlassung abzuschätzen und sich auf die gegebenenfalls erforderlichen Maßnahmen vorzubereiten. Hiernach führt ein entsprechender Verstoß nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.
Weitere Verstöße Polens gegen das EU-Recht – EuGH
Der EuGH hat am 13. Juli 2023 sein Urteil (in Französisch) zu einem weiteren Vorabentscheidungsersuchen bezüglich der Immunität eines polnischen Richters, vorgelegt vom Landgericht Warschau, verkündet. Das vorlegende Gericht hatte den Gerichtshof um Klärung der Frage gebeten, ob das Unionsrecht nationalen Bestimmungen entgegensteht, die einem Gericht erlauben, die Immunität eines Richters aufzuheben und ihn durch eine Suspendierung von der Ausübung seines Amtes abzuhalten. Im Ausgangsfall ging es dabei um ein Verfahren vor der Disziplinarkammer des obersten polnischen Gerichts, die nach Einschätzung des EuGH den Anforderungen an Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und vorherige Errichtung durch Gesetz nicht erfüllt (vgl. EiÜ 22/23 zu C-204/21). Der EuGH stellte wiederum klar, dass nationale Vorschriften, die ein entsprechendes Strafverfahren erlauben, aufgrund des Anwendungsvorranges des Unionsrechts und dem Grundsatz loyaler Zusammenarbeit unter den Anwendungsbereich des Art. 19 I EUV fallen. Mit der dort beschriebenen Pflicht der Mitgliedstaaten, einen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten, sind jene Vorschriften nicht vereinbar. Nationale Gerichte sind somit verpflichtet, diese Vorschriften unangewendet zu lassen, wenn andernfalls der Vorrang des Unionsrechts nicht gewährleistet werden kann.
Identifikation mit westlichen Werten als Verfolgungsgrund? – EuGH
Wenn westliche Werte Teil der Identität von Drittstaatsangehörigen werden, sollten sie Schutz erhalten und nicht gezwungen werden, auf diese zu verzichten. Zu diesem Ergebnis kommt der Generalanwalts des EuGH, Anthony Collins in seinen Schlussanträgen vom 13. Juli 2023 im Zusammenhang mit der Frage, wann eine bestimmte soziale Gruppe in einem Land eine deutlich abgegrenzte Identität im Sinne der Richtlinie über internationalen Schutz (2011/95/EU) hat. Hierbei handelt es sich um Merkmale, aus denen nach Maßgabe des Einzelfalls ein Verfolgungsgrund abgeleitet werden kann. Im Ausgangsverfahren ging es um die Folgeanträge auf internationalen Schutz zweier Mädchen, die prägende Jahre ihrer Jugend in den Niederlanden verbracht und die dort vorherrschenden Werte übernommen haben. Nach dem Generalanwalt ist Art. 10 I d) der Richtlinie (2011/95/EU) dahingehend auszulegen, dass Mädchen oder Frauen aufgrund ihres biologischen Geschlechts ‚angeborene Merkmale‘ teilten und nicht gezwungen werden sollten, auf ihre Überzeugung von der Gleichheit der Geschlechter zu verzichten, die sie während einer beträchtlichen Zeitspanne in einer identitätsbildenden Lebensphase in einem Mitgliedstaat erlangt haben. Ferner habe eine Gruppe junger Frauen und Mädchen, die eine solche Überzeugung teilen, in ihrem Herkunftsland eine deutlich abgegrenzte Identität, wenn sie damit in ihrem Herkunftsland gegen die Moralvorstellungen verstoßen und diese Überzeugungen erkennbar zum Ausdruck bringen. Das Urteil des EuGH folgt in den nächsten Monaten.
Online-Zeitungsarchiv darf kein virtuelles Strafregister schaffen – EGMR
Die Anonymisierung eines Artikels im Internetarchiv einer Zeitung ist verhältnismäßig, wenn nach den konkreten Umständen das Recht auf Vergessen die Pressefreiheit überwiegt. Dies geht aus dem Urteil der Großen Kammer des EGMR im Berufungsverfahren vom 4. Juli 2023 hervor (vgl. zum vorhergehenden Urteil der Kammer hier). Bei dem in Rede stehenden Artikel war über einen tödlichen Verkehrsunfall berichtet und der verantwortliche Fahrer namentlich bezeichnet worden. Eine gerichtliche Anordnung hatte vorgesehen, dass der Zeitungsherausgeber die online verfügbare Version anonymisieren muss. Die Richtermehrheit nahm eine Abwägung zwischen dem Recht des Fahrers nach Art. 8 EMRK (Schutz der Privatsphäre) und dem Rechts des Herausgebers nach Art. 10 EMRK (Pressefreiheit) vor und entschied letztlich zugunsten des Fahrers. Die namentliche Nennung sei geeignet, ein virtuelles Strafregister zu schaffen, das die Reintegration verhindere, zumal seit der Verurteilung 20 Jahre vergangen seien. Er erleide einen schweren Ansehensschaden, indem die bloße Namenseingabe in die Suchmaschine zu dem offen zugänglichen Artikel führe. Angesichts der geringen Bedeutung der Identität für die öffentliche Debatte stelle die Anonymisierung keine unzumutbare Belastung für den Herausgeber und damit keine Verletzung der Pressefreiheit dar.
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