Europa im Überblick, 28/2023

EiÜ 28/2023

Weltjustizdatenbericht: „Justice gap“ und unerfüllter juristischer Bedarf – WJP

Das World Justice Project, welches jährlich u.a. seinen Rule of Law Index zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Welt herausgibt (s. zuletzt EiÜ 36/22), hat erstmalig einen Weltjustizdatenbericht (nur in englischer Sprache) herausgegeben. Dieser basiert auf dem „Global Legal Needs Survey“ und umfasst Werte von 104 Ländern. Als grundsätzliches Problem wurde der Zugang der Bevölkerung zum Recht identifiziert, der insbesondere in einkommensschwachen Ländern beschränkt ist. Während in einkommensstärkeren Ländern schwerwiegende Rechtsfragen dem Bericht zufolge seltener auftreten, gibt es in einkommensschwachen Ländern sowohl schwerwiegende als auch einfachere rechtliche Probleme. Dort treten auch vermehrt finanzielle Folgeschäden sowie das sogenannte ‚justice gap‘ auf, bei dem der Bedarf an Rechtsbeihilfe und -schutz nicht gedeckt ist. In Deutschland treten im Allgemeinen weniger schwerwiegende rechtliche Probleme auf und der Zugang zum Recht, insbesondere zu Informationen, ist im globalen Vergleich besser gegeben. Zudem wird ein Großteil der Verfahren innerhalb eines Jahres abgeschlossen. Allerdings ist der Zugang zu Streitbeilegungsmechanismen verbesserungswürdig, ebenso wie der zu geeigneter rechtlicher Hilfe und Vertretung. Zwar fallen oft keine oder gut bezahlbare Prozesskosten an, doch sind auch 46 % der Befragten in Deutschland auf zwei oder mehr justizielle Hürden gestoßen sind, ohne dass näher spezifiziert wird, was darunter verstanden wird.

Data Act: Kompromisstext angenommen – EP

Der federführende Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) des EU-Parlaments hat am 19. Juli 2023 den in den Trilogverhandlungen erzielten Kompromisstext zum Data Act angenommen (s. dazu bereits EiÜ 25/23). Geregelt wird die gemeinsame Datennutzung, einschließlich personenbezogener und Metadaten. Nutzer vernetzter Geräte müssen von Betreibern einen sicheren und in Echtzeit erfolgenden Zugang zu den erzeugten Daten erlangen sowie diese weitergeben können. KMU sind von der Pflicht ausgenommen. Die Datennutzung kann bei Gefahren für Gesundheit oder Sicherheit vertraglich eingeschränkt werden. Wird die Vertraulichkeit von Geschäftsgeheimnissen infolge fehlender Vereinbarungen beeinträchtigt, kann die Weitergabe verweigert werden. Unternehmen können Anfragen ablehnen, wenn sie nachweisen, dass durch die Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen ein schwerwiegender wirtschaftlicher Schaden droht. Öffentliche Stellen können Daten nur in Ausnahmefällen anfragen. Der DAV sieht die mangelnde Regelung zu Geschäftsgeheimnissen im B2G-Datenverkehr kritisch und hatte sich im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens für effektive Schutzmaßnahmen eingesetzt (vgl. SN Nr. 40/2022; Nr. 38/2023). Beim unrechtmäßigen Zugang Dritter zu nicht personenbezogenen Daten bestehen Rechte auf Löschung und Entschädigung. Für den Wechsel zwischen Datenverarbeitungsdiensten werden Anbieter verpflichtet, Hindernisse zu beseitigen und Kunden Informationen zur Verfügung zu stellen. Nun müssen das Plenum des EU-Parlaments und der Rat dem Kompromisstext formell zustimmen.

Trilogverhandlungen zum ‚Cyber Resilience Act‘ können beginnen – EP/Rat

Der Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) des EU-Parlaments hat am 19. Juli 2023 den Berichtsentwurf des Berichterstatters Nicola Danti (Renew, Italien) zum ‚Cyber Resilience Act‘ mit Änderungen angenommen und für die Aufnahme von Trilogverhandlungen gestimmt, vgl. Pressemitteilung (in Englisch). Der DAV hatte sich hierzu bereits im Dezember 2022 in seiner Stellungnahme 73/22 geäußert und etwa gefordert, sogenannte Stand-alone-Produkte in den Anwendungsbereich aufzunehmen sowie die Geltung der aus der DSGVO bekannten Prinzipien „data protection by design/by default“ zu verankern. Der Verordnungsentwurf stellt für die Entwicklung und das Inverkehrbringen von Hardware- und Softwareprodukten verbindliche Anforderungen gegenüber den Herstellern auf, um das Risiko von Cybersicherheitsrisiken auch während des Lebenszyklus der Produkte zu minimieren, vgl. bereits EiÜ 1/23. Der Berichterstatter hatte sich in seinem Berichtsentwurf dafür ausgesprochen, mehr Klarheit im Hinblick auf die Liste kritischer Produkte zu schaffen und gewisse Erleichterungen für Entwickler von Open Source Software vorzusehen. Auch der Rat hat sich am 19. Juli 2023 positioniert, vgl. Pressemitteilung bzw. das Verhandlungsmandat. Sobald das Plenum des EU-Parlaments seine Zustimmung erteilt hat und das Verhandlungsmandat des Rates formell bestätigt wurde, können die Trilogverhandlungen beginnen.

Bekämpfung aggressiver Steuerplanung in der EU – EP

Im Unterausschuss für Steuerfragen (FISC) des EU-Parlaments fand am 18. Juli 2023 eine öffentliche Anhörung zur geplanten „Richtlinie zur Bekämpfung der Rolle von Vermittlern, die Steuerhinterziehung und aggressive Steuerplanung in der Europäischen Union erleichtern (SAFE)“, statt. In Erwartung eines entsprechenden Richtlinienvorschlags der EU-Kommission, sollten die bestehenden Probleme anhand dreier Expertenvorträge abgesteckt werden. Eine Sprecherin des International Ethics Standards Board for Accountants stellte ein Rahmenwerk für ethische Prinzipien in der Steuerberatungspraxis vor und betonte, dieses Rahmenwerk könne auch auf Anwält:innen übertragen werden. Darüber hinaus wurde über den Anwendungsbereich der erwarteten Richtlinie sowie über eine Definition aggressiver Steuerplanung diskutiert. Diesbezüglich merkte ein Vertreter des IBFD (Internationales Büro für Steuerdokumentation) an, der Grundrechtsschutz müsse gewahrt werden, insbesondere in Hinblick auf Sanktionen und eine Registrierungspflicht. Auch in Bezug auf das Recht auf Privatsphäre und das anwaltliche Berufsgeheimnis müsse die Richtlinie hinreichend konkretisiert werden. Ähnliche Kritik hatte der DAV bereits in seiner Stellungnahme 58/2022 geäußert. Der Kommissionsvorschlag für die SAFE-Richtlinie wird voraussichtlich noch in diesem Jahr veröffentlicht.

Den Anwendungsvorrang des EU-Rechts stärken – EP

Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist eines der Kernprinzipien der Europäischen Union und ein entscheidender Faktor bei der Europäischen Integration. Um die Umsetzung des Prinzips zu stärken und seine Relevanz zu unterstreichen, wurde in einer gemeinsamen Sitzung des Rechtsausschusses (JURI) und des Ausschusses für konstitutionelle Fragen (AFCO) des EU-Parlaments am 19. Juli 2023 ein entsprechender Initiativberichtsentwurf vorgestellt. Der Bericht von den Berichterstattern Cyrus Engerer (S&D) und Yana Toom (Renew) enthält einige Forderungen an die EU-Kommission sowie den Rat der EU, die Einhaltung des Anwendungsvorrangs etwa durch eine Überprüfung nationaler Urteile oder durch Vertragsverletzungsverfahren zu bestärken. Im Falle einer Änderung der EU-Verträge solle außerdem eine Kodifizierung des Prinzips in Betracht gezogen werden, da es bisher auf der Rechtsprechung des EuGH beruhe. In der Diskussion im Ausschuss wurde hervorgehoben, dass ein Dialog zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten und den EU-Institutionen notwendig sei, auch um härtere Mittel zu vermeiden. Auch wurde darauf hingewiesen, dass ein Umgang mit nationalen Gerichten gefunden werden müsse, die das Prinzip ausdrücklich in Frage stellen (so etwa das polnische Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 7. Oktober 2021, vgl. hierzu EiÜ 31/21). Die Frist für die Einreichung von Änderungsanträgen endet am 04. September 2023.

Das Recht der EU in virtuellen Welten – KOM/EP

Die Europäische Union bereitet sich auf den nächsten technologischen Wandel und eine neue Generation des Internets vor. Um diesen mitzusteuern und in Einklang mit den Grundrechten und Werten der EU zu bringen, hat die EU-Kommission am 11. Juli 2023 ihre Mitteilung „Eine EU-Initiative für virtuelle Welten: Beginn des nächsten technologischen Wandels“ veröffentlicht (s. Pressemitteilung). Immersive Technologien, die reale und digitale Räume verbinden, bergen ein großes Potential in Gesundheits-, Forschungs- und Bildungsfragen. Die EU-Kommission hofft, mithilfe virtueller Welten politische Teilhabe, unternehmerische Prozesse und virtuelle öffentliche Dienste zu verbessern. Um einer Monopolisierung entgegenzuwirken, sollen allgemeine Standards entwickelt werden, die mit den Werten der EU vereinbar sind. In einer Sitzung des Rechtsausschusses (JURI) des EU-Parlaments wurde am 19. Juli 2023 zudem der Entwurf eines Initiativberichts zu demselben Thema diskutiert (zum Stand: 2023/2062(INI)). Es wurden unter anderem Fragen zu Urheberrechten, Geschäftsgeheimnissen, Rechts- und Cybersicherheit, Verbraucherrechten und Rechtsschutz aufgeworfen. Der Realisierung von virtuellen Welten wie dem Metaverse mit Leitlinien für den Umgang zuvorzukommen, ist ein Kernelement der Kommissionsstrategie und des Berichts des Parlaments.

Menschenrechtsverteidiger:innen aus Drittländern schutzbedürftig – EP

Zunehmende Angriffe, Verhaftungen und Kriminalisierung ihres Engagements sind besondere Risiken für Aktivist:innen (darunter häufig auch Anwält:innen). Dies ist das Ergebnis einer Studie der EU-Grundrechteagentur (FRA) über den Schutz von gefährdeten Menschenrechtsverteidiger:innen, die am 18. Juli 2023 im Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des EU-Parlaments vorgestellt wurde. Die Studie beleuchtet den geltenden Rechtsrahmen mit Blick auf die Einreise und den Aufenthalt innerhalb der EU. Dazu werden Empfehlungen zur besseren Unterstützung der Menschenrechtsverteidiger:innen formuliert. Zwar gebe es nationale Initiativen für vorübergehende Aufenthalte in EU-Staaten, allerdings nur in acht Mitgliedstaaten (in Deutschland die Elisabeth-Selbert-Initiative). Empfohlen wird daher die Gründung weiterer sowie eine Ausweitung der bestehenden Programme. Zudem fehle es bisher an einem unionsweit einheitlichen Ansatz. Positiv hervorgehoben werden unter anderem die EU-Leitlinien zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen (vgl. EiÜ 10/23). In der Praxis brauche es laut der Studie eine Flexibilisierung bei der Ausstellung von (Mehrfach- und Kurzzeit-)Visa. Die FRA empfiehlt daneben auch die Ermöglichung von Online-Anträgen sowie die Überprüfung und Anpassung bestehender rechtlicher Instrumente (z.B. des Visakodex). Auch während des Aufenthalts werden gezielte Unterstützungsmaßnahmen, etwa die Bereitstellung von Wohnraum, empfohlen.

Mehrstimmrechtsaktien für Gesellschaften auf allen geregelten Märkten – EP

Die Möglichkeit von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen soll in allen geregelten Aktienmärkten bestehen. Dies geht aus dem Berichtsentwurf (in Englisch) des Berichterstatters Alfred Sant (S&D) des EU-Parlaments zum Vorschlag der EU-Kommission über eine Richtlinie zur Einführung von Mehrstimmrechtsaktien hervor. Diese zielt auf eine Verringerung von regulatorischen Beschränkungen des Zugangs zu KMU-Wachstumsmärkten und vergleichbarere Marktzugangsbedingungen in der EU ab. Während die EU-Kommission hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Richtlinie vorschlägt, Mehrstimmrechtsaktien nur für Gesellschaften zuzulassen, die eine Notierung an einem KMU-Wachstumsmarkt anstreben, spricht sich der Berichterstatter für eine Ausweitung auf alle geregelten Märkte im Sinne der Richtlinie 2014/65/EU aus. Der DAV hat in seiner Stellungnahme (Nr. 11/2023) dafür plädiert, die Beschränkung auf ein bestimmtes Marktsegment aufzuheben und begrüßt daher die Änderung. Ferner sieht der Berichtsentwurf bestimmte Schutzmaßnahmen der übrigen Anteilseigner vor. So soll etwa eine bezifferte Begrenzung der Stimmrechtsquoten sowie eine großzügige Obergrenze beim Verfall der Mehrstimmrechte von zehn Jahren (sog. time-based sunset clause) vorgesehen sein. Auch hierfür hatte sich der DAV ausgesprochen. Die Abstimmung im zuständigen Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON) wird nach der Sommerpause voraussichtlich am 24. Oktober 2023 erfolgen.

Terrorismusbekämpfung: Vertragsverletzungsverfahren schreitet voran – KOM

Die Europäische Kommission hat den nächsten Schritt im Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen unvollständiger Umsetzung der Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung (2017/541/EU) eingeleitet. Dazu übersandte sie am 14. Juli 2023 ein ergänzendes Aufforderungsschreiben an die Bundesrepublik. Die Richtlinie, die der Sanktionierung von Straftaten mit terroristischem Hintergrund dient, musste bis September 2018 in nationales Recht umgesetzt werden. In dem Verfahren hatte die EU-Kommission bereits im Juni 2021 ein Aufforderungsschreiben und im April 2023 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Bundesrepublik gerichtet. Das nun übersandte Aufforderungsschreiben ergeht, da die Bedenken der EU-Kommission durch die Antworten Deutschlands noch nicht ausgeräumt werden konnten. Innerhalb von zwei Monaten muss Deutschland nun die aufgezeigten Mängel beheben.

Europa im Überblick macht Sommerpause – DAV

Mit dieser Ausgabe von ‚Europa im Überblick‘ verabschieden wir uns in die Sommerpause und wünschen allen Leser:innen eine gute und erholsame Ferienzeit. Die nächste Ausgabe wird voraussichtlich in der ersten Septemberwoche 2023 erscheinen.

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