EiÜ 29/24
Europa im Überblick zurück aus der Sommerpause – Los geht’s mit der neuen Legislatur 2024-2029!
Liebe Leser:innen,
wir hoffen Sie haben eine gute Sommerzeit verbracht und freuen uns, Ihnen nun die erste Ausgabe von „Europa im Überblick“ in der neuen Legislatur zu übersenden – die (nicht nur) anwaltsrelevanten europäischen Themen in den EU-Institutionen sowie den europäischen Gerichten EuGH und EGMR.
Rechtsstaatlichkeitsbericht 2024 und politische Leitlinien – KOM
Die Europäische Kommission hat am 24. Juli 2024 den jährlichen Bericht über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedsländern veröffentlicht und attestiert Deutschland ein insgesamt weiterhin effizient funktionierendes Justizsystem. Die EU-Kommission greift in ihrem Länderbericht zu Deutschland unter anderem die Initiativen zur Resilienz des Bundesverfassungsgerichts auf sowie den Stillstand bei der Diskussion um die digitale Dokumentation der Hauptverhandlung in Strafsachen. Beide Themen hat der DAV von Anfang an begleitet und entsprechende Fortschritte eingefordert, vgl. auch die DAV-Stellungnahme 02/24. Im Unterkapitel zur Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft wird zudem die Exekutivbefugnis zur Weisungserteilung thematisiert, wobei der deutsche Gesetzesentwurf zur Erhöhung der Transparenz in diesem Bereich positiv bewertet wurde. Mit Blick auf die Medienfreiheit spricht die Kommission von einer „zunehmend feindseligen Haltung“ gegenüber Journalisten und Medien. Der Blick in die Länderkapitel mehrerer Mitgliedstaaten zeigt, dass die Rechtsstaatlichkeit Gefahr läuft, untergraben zu werden. In ihren am 18. Juli 2024 vor ihrer Wiederwahl vorgelegten Leitlinien für die Legislaturperiode 2024-2029 nimmt die Rechtsstaatlichkeit zwar keinen prominenten Platz ein, Ursula von der Leyen kündigt darin aber an, die Empfehlungen des Rechtsstaatsberichts enger mit der Bereitstellung finanzieller Unterstützung zu verknüpfen.
Russlandsanktionen: Notarielle Beurkundung von Immobilien erlaubt – EuGH
Am 5. September 2024 stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil in der Rechtssache C-109/23 fest, dass Notar:innen in Deutschland nicht gegen die geltenden EU-Sanktionen gegen Russland verstoßen, wenn sie Immobilienverkäufe russischer Unternehmen beurkunden (vgl. PM). Hintergrund des Verfahrens war ein Fall, in dem ein Berliner Notar sich aufgrund von Rechtsunsicherheit geweigert hatte, einen Kaufvertrag über eine Wohnung zu beurkunden, die einer russischen Gesellschaft gehörte. Die Vorschrift in Art. 5n Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 sieht vor, dass gegenüber in Russland ansässigen juristischen Personen keine Rechtsberatung erbracht werden darf. Der Fall wurde vor dem Landgericht Berlin verhandelt, das den EuGH um eine Vorabentscheidung ersuchte (vgl. bereits EiÜ 14/24). Der EuGH entschied, dass notarielle Tätigkeiten regelmäßig nicht als Rechtsberatung im Sinne der Verordnung betrachtet werden, da Notar:innen vom Staat übertragene Aufgabe wahrnehmen und dabei unabhängig und unparteiisch agierten. Auch weitere Tätigkeiten, wie die Verwaltung des Kaufpreises oder die Eigentumsumschreibung, aber auch Dolmetschertätigkeiten fallen laut EuGH nicht unter das Verbot. Am 2. Oktober entscheidet das Gericht erster Instanz über die Klagen u.a. der Pariser Anwaltskammer gegen das Rechtsberatungsverbot im achten Sanktionspaket (vgl. auch EiÜ 7/23).
DAC 6: EuGH stärkt anwaltliches Mandatsverhältnis – EuGH
Meldepflichten zur Bekämpfung von Steuergestaltungen sind möglich, aber die anwaltliche Verschwiegenheit hat Vorrang. So urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 29. Juli 2024 im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchen des belgischen Verfassungsgerichtshofs (Rs. C-623/22) zur sog. DAC-6-Richtlinie, vgl. bereits EiÜ 9/24. Der EuGH bejahte die Unionsrechtskonformität der Richtlinie hinsichtlich der zur Frage gestellten Aspekte (u.a. die Grundsätze der Gleichheit und Nichtdiskriminierung) und urteilte, dass die Ausnahme von der in der Richtlinie enthaltenen Meldepflicht bei bestehender Verschwiegenheitspflicht nur auf Rechtsanwälte Anwendung findet. Andere Berufsgruppen, die zur Vertretung vor Gericht ermächtigt sind, fallen demnach nicht unter diese Ausnahme, vgl. bereits EiÜ 42/22. Die Vertraulichkeit des Mandatsverhältnisses genieße einen ganz speziellen Schutz, der sich aus der singulären Stellung des Rechtsanwalts innerhalb der Gerichtsorganisation der Mitgliedstaaten sowie der ihm übertragenen grundlegenden Aufgabe ergebe, die von allen Mitgliedstaaten anerkannt werde. Im Übrigen stelle die Meldepflicht der Intermediäre, die nicht wegen der ihnen obliegenden Verschwiegenheitspflicht von ihr befreit seien, sowie die des betreffenden Steuerpflichtigen einen verhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 7 EU-Grundrechtecharta) dar.
EU-US-Datenschutzrahmen: Bericht über Wirkungsweise – KOM
Die EU-Kommission will den Datenschutzrahmen EU-USA überprüfen und die Ergebnisse in einem Bericht veröffentlichen. Hierzu führt sie bis zum 6. September 2024 eine öffentliche Sondierung durch. Mit dem Beschluss nach Art 45 DSGVO wurde bestätigt, dass bei der Übermittlung personenbezogener Daten von Unionsbürgern in die USA ein der EU äquivalentes Datenschutzniveau bestehe, vgl. EiÜ 27/2023. Nun soll geprüft werden, ob die im Juli 2023 festgelegten Regelungen vollständig im Rechtsrahmen der USA umgesetzt wurden und in der Praxis Wirkung zeigen. Da der Angemessenheitsbeschluss der EU-Kommission vom 10. Juli 2023 ein hohes Schutzniveau gewährleisten soll, soll die Überprüfung umfassend ausfallen. Es handelt sich hierbei bereits um den dritten Angemessenheitsbeschluss, da der Europäische Gerichtshof die Vorherigen für ungültig erklärte, s. Urteile „Schrems I“ (C362/14) und II (C-311/18). Es wurden insbesondere der weitreichende Zugang zu Daten aus der EU durch US-Geheimdienste sowie die unzureichenden Rechtsbehelfsmöglichkeiten von Nicht-US-Bürgern im Falle von geheimdienstlicher Überwachung kritisiert (vgl. EiÜ 27/2023; 34/22; 12/22). Der anschließende Bericht wird dem Europäischen Parlament und dem Rat übermittelt. Die Datenschutzorganisation „Noyb“ hat bereits angekündigt, auch gegen den neuen Angemessenheitsbeschluss vorgehen zu wollen.
Zweiter Bericht zur Datenschutz-Grundverordnung veröffentlicht – KOM
Am 25. Juli 2024 hat die EU-Kommission ihren zweiten Bericht zur Bewertung der Anwendung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) angenommen und Bilanz gezogen. Die EU-Kommission attestiert der DSGVO trotz Herausforderungen wichtige Ergebnisse für Einzelpersonen und Unternehmen gebracht zu haben. Der risikobasierte, technologieneutrale Ansatz garantiere ein hohes Schutzniveau und lege den für die Verarbeitung Verantwortlichen und Auftragsverarbeitern angemessene Verpflichtungen auf. Dennoch gebe es Verbesserungsbedarf, insbesondere bei der Unterstützung von kleineren und mittleren Unternehmen (KMU), der Bereitstellung klarer und praxistauglicher Leitlinien der Datenschutzbehörden und der einheitlichen Auslegung und Durchsetzung der DSGVO in der gesamten EU. Darüber hinaus soll der im Juli 2023 vorgelegte Vorschlag für eine Verordnung über Verfahrensregeln für grenzüberschreitende Fälle Abhilfe leisten, die Effizienz und Einheitlichkeit der Bearbeitung grenzüberschreitender Fälle zu verbessern. Trotz personeller und finanzieller Engpässe verzeichnet die Kommission einen Anstieg der DSGVO-Durchsetzungen. Problematisch bleibe jedoch die missbräuchliche Verwendung der Beschwerdemöglichkeit durch unbegründete Beschwerden. Künftig soll vor allem das Zusammenspiel mit anderen Verordnungen, wie der KI-Verordnung oder dem Gesetz über digitale Dienste (DSA) vorangetrieben werden. Der nächste Bericht wird 2028 vorgelegt.
Reform des Europäischen Gerichtshofs – EuGH/EuG
Zur Umsetzung der Reform der Satzung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sind am 1. September 2024 die Änderungen der Verfahrensordnungen des EuGH (abrufbar hier) sowie des Gerichts 1. Instanz (EuG, abrufbar hier) in Kraft getreten, vgl. PM. Ein wesentlicher Teil der Reform besteht in der Übertragung der Zuständigkeit für Vorabentscheidungsverfahren in bestimmten Sachgebieten (darunter das Mehrwertsteuersystem, die Verbrauchssteuern und der Zollkodex) vom Gerichtshof auf das Gericht 1. Instanz, um die hohe Arbeitsbelastung des Gerichtshofs zu verringern (vgl. bereits EiÜ 8/24). Dies betrifft Vorabentscheidungsersuchen, die ab dem 01. Oktober 2024 vorgelegt werden. Eine weitere Neuerung besteht darin, dass in allen Vorabentscheidungsverfahren Schriftsätze der Beteiligten fortan nach Abschluss des Verfahrens veröffentlicht werden, wobei es eine Widerspruchsmöglichkeit seitens des jeweiligen Beteiligten gibt. Näheres erfahren Sie hier. Schließlich wurden neue praktische Durchführungsbestimmungen für die Parteienvertreter und die sonstigen Beteiligten erlassen.
Minderjährige haben Recht auf Zugang zu Rechtsbeistand – EuGH
Strafrechtlich verfolgte Minderjährige müssen die konkrete und effektive Möglichkeit haben, sich von einem Rechtsbeistand unterstützen zu lassen, betonte der EuGH am 5. September 2024 in der Rs. C-603/22. Ein polnisches Vorabentscheidungsersuchen gab dem EuGH die Möglichkeit, das Ausmaß der nach der Richtlinie 2016/800 erforderlichen Rechte in Strafverfahren beschuldigter Kinder noch einmal herauszustellen. Um den Grundsatz des fairen Verfahrens zu gewährleisten, seien Minderjährige so schnell wie möglich und spätestens vor ihrer ersten Befragung in einer verständlichen Form – kein standardisiertes Dokument für Erwachsene - über ihre Verfahrensrechte zu belehren. Spätestens bei der Befragung ist ein Rechtsbeistand zur Unterstützung erforderlich. Minderjährige, die nicht tatsächlich Zugang zu einem Rechtsbeistand erhielten, könnten nicht befragt werden. Der EuGH betont weiter, dass diese Rechte auch fortbestehen, wenn der Minderjährige während des Strafverfahrens das 18. Lebensjahr vollendet und dies angesichts des Reifegrades und der Schutzbedürftigkeit angemessen ist. Die Mitgliedstaaten seien nach Unionsrecht aber nicht verpflichtet, belastende Beweise, die aus einer in verfahrensverletzender Weise erlangten Aussage eines Minderjährigen stammen, für unzulässig zu erklären. Es sei Sache der Gerichte, die Wahrung der Grundrechte aus Art. 47 und 48 EU-Grundrechtecharta zu prüfen und Konsequenzen zu ziehen, insbesondere den Beweiswert zu klären.
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