Europa im Überblick, 30/2023

EiÜ 30/2023

Anwaltsgeheimnis auf dem Prüfstand – EuGH

Dem EuGH liegen im luxemburgischen Vorabentscheidungsersuchen Rs. C-432/23 weitreichende Fragen zum anwaltlichen Berufsgeheimnis im Kontext der DAC-Richtlinie 2011/16/EU zum Informationsaustausch von Steuerbehörden vor. Die zuständige Luxemburgische Steuerbehörde richtete nach Anfrage durch die spanische Behörde ein Auskunftsersuchen an eine luxemburgische Kommanditgesellschaft, eine Anwaltskanzlei. Gegenstand waren sämtliche Unterlagen betreffend die gesellschaftsrechtliche Beratung eines spanischen Unternehmens hinsichtlich einer Unternehmenstransaktion. Die Kanzlei berief sich daraufhin auf das anwaltliche Berufsgeheimnis. Gegen eine daraufhin erhobene Geldbuße wegen Nichtbefolgung des Auskunftsersuchens klagte die Kanzlei und sieht in dem Auskunftsersuchen einen nicht gerechtfertigten Eingriff in Art. 7 der Grundrechtecharta. Sie verweist u.a. auf das Urteil vom 8. Dezember 2022 (C-694/20, vgl. EiÜ 42/22). Das Oberste luxemburgische Verwaltungsgericht will u.a. wissen, ob die Rechtsberatung eines Rechtsanwalts im Bereich des Gesellschaftsrechts in den Bereich des von Art. 7 der Charta gewährten Berufsgeheimnisses fällt, ferner ob ein DAC-Ersuchen zur Übermittlung sämtlicher verfügbarer Unterlagen über die Beziehungen des Anwalts zu seinem Mandanten, eine  detaillierte Beschreibung der Transaktionen, die Gegenstand seiner Beratungen waren, eine Erläuterung seiner Beteiligung an diesen Vorgängen und die Auflistung seiner Gesprächspartner einen ebensolchen Eingriff darstellt.

Offener Brief: Klares NEIN zur Chatkontrolle – DAV/EDRi

Der DAV hat einen von der Digitalrechtsorganisation EDRi (European Digital Rights) initiierten offenen Brief (abrufbar hier, in englischer Sprache) unterzeichnet, durch den die Regierungen der Mitgliedstaaten aufgefordert werden, den Verordnungsvorschlag zur Bekämpfung von Online-Kindesmissbrauch abzulehnen, da dieser schlichtweg unverhältnismäßig ist und weitreichende Eingriffe in die geschützte Kommunikation im Internet beinhaltet. In dem von mehr als 80 Organisationen unterzeichneten Brief werden die Regierungen der Mitgliedstaaten aufgefordert, dem Vorschlag in der jetzigen Form nicht zuzustimmen. In einer zeitgleich veröffentlichten Pressemitteilung (32/23) weist der DAV darauf hin, dass mit der verdachtsunabhängigen Durchleuchtung digitaler Kommunikation Kernwerte der Europäischen Union – die freie Meinungsäußerung und die Unschuldsvermutung – auf dem Spiel stehen. Zuvor hatte der DAV in seiner Stellungnahme Nr. 32/23 bereits auf die erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken hingewiesen, die angesichts einer geplanten Abschaffung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bestehen, vgl. auch EiÜ 16/23; 14/23.

Ne bis in idem gilt auch bei Verwaltungssanktionen – EuGH

Eine im Rahmen des Dieselskandals durch die italienische Marktaufsichtsbehörde gegenüber VW verhängte verwaltungsrechtliche Geldbuße verstößt gegen das Doppelbestrafungsverbot gem. Art. 50 der EU-GRCh, da VW zwischenzeitlich in Deutschland einen Bußgeldbescheid der Staatsanwaltschaft im gleichen Zusammenhang erhalten hatte, der rechtskräftig geworden war. Dies entschied der EuGH in der Rs.C-27/22 am 14. September 2023 und folgte damit Generalanwalt Sanchez-Bodona, vgl. EiÜ 13/23. Der EuGH stellte in seiner Entscheidung Kriterien auf, die für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur verwaltungsrechtlicher Sanktionen und damit die Anwendbarkeit des Ne bis in idem Grundsatzes maßgeblich sind. So kommt es unabhängig von einer innerstaatlichen Einordnung darauf an, ob die Sanktion eine repressive Zielsetzung verfolgt sowie auf den Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion. Für den Verstoß sei nicht entscheidend, welche Geldbuße zuerst verhängt worden sei, sondern welche Strafe zuerst rechtskräftig geworden sei. Sobald eine endgültige Entscheidung vorliege, könne keine Strafverfolgung mehr eingeleitet oder aufrechterhalten werden. Ein Verstoß kann laut EuGH allerdings dann gerechtfertigt sein, wenn die Geldbuße keine übermäßige Belastung darstellt, klar vorhersehbar ist, bei welchen Handlungen sie in Betracht kommt, und die Verfahren koordiniert und in engem zeitlichen Zusammenhang geführt wurden.

Gerichtlicher Hinweis auf Rücktrittsrecht bei Pauschalreise – EuGH

In seinem Urteil vom 14.September 2023 (C-83/22) befasste sich der EuGH mit dem Rücktrittsrecht von Pauschalreisenden im Zusammenspiel mit der zivilprozessualen Verhandlungsmaxime. Ein spanisches Gericht ersuchte den EuGH im Wege der Vorabentscheidung mit der Frage, ob dem Reisenden nach der Pauschalreiserichtlinie (EU) 2015/2302 von Amts wegen die Erstattung aller getätigten Zahlungen zugesprochen werden dürfe, wenn zu dessen Gunsten ein Rücktrittsrecht aufgrund außergewöhnlicher Umstände besteht, auf das dieser aber nicht vollumfänglich hingewiesen worden war. Der EuGH stellte klar, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 die Grundsätze der Verhandlungsmaxime und der Bindung an die Parteianträge unberührt lässt und insofern ein nationales Gericht nicht ohne entsprechenden Antrag die volle Erstattung zusprechen dürfe. Allerdings ist das nationale Gericht unter bestimmten Umständen verpflichtet, das Rücktrittsrecht von Amts wegen zu prüfen. Hierzu muss der geltend gemachte Streitgegenstand jedenfalls mit dem Rücktrittsrecht zusammenhängen und die Möglichkeit bestehen, dass der Kläger von seinem Rücktrittsrecht keine Kenntnis hatte. Insofern müssen es die Verfahrensordnungen zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des Rücktrittsrechts erlauben, dass die Gerichte den Reisenden von Amts wegen über seinen Anspruch auf volle Erstattung informieren und ihm insofern die Möglichkeit geben, den Anspruch geltend zu machen.

Letzte Rede zur Lage der Europäischen Union – KOM

In ihrer letzten Rede zur Lage der Europäischen Union in dieser Legislaturperiode ging Kommissionspräsidentin Von der Leyen am 13. September 2023 auf Erreichtes, aber auch auf noch offene Herausforderungen für diese EU-Kommission ein. Die Regeln über vorübergehenden Schutz für Geflüchtete aus der Ukraine sollen bis 2025 verlängert werden. Wegen des Verdachts der Wettbewerbsverzerrung durch staatliche Unterstützung Chinas habe die Europäische Kommission eine Untersuchung bezüglich Subventionen für Elektrofahrzeuge aus China eingeleitet, welche rechtliche Aspekte im Zusammenhang mit Handel und Subventionen betrifft. Zum Thema Künstliche Intelligenz betonte von der Leyen die Notwendigkeit, einen sicheren Raum für die Wahrung von Grundrechten in der digitalen Welt zu schaffen, insbesondere im Hinblick auf digitale Privatsphäre. Weiter ging sie auf die laufende Überarbeitung der Regeln zum Menschenhandel ein, die dringend erforderlich sei und kündigte eine großangelegte internationale Konferenz an. Zur Wirtschaftszukunft der EU soll der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank Mario Draghi einen Bericht zu wirtschaftlichen Chancen und Risiken der EU ausarbeiten.

Grenzüberschreitende Anerkennung von Vereinen – KOM

Die EU-Kommission hat am 5. September 2023 einen Vorschlag für eine Richtlinie zur grenzüberschreitend tätigen Vereinen vorgelegt (bisher nur auf Englisch verfügbar). Durch den Vorschlag sollen rechtliche und administrative Hürden bei der grenzüberschreitenden Tätigkeit von nicht gewinnorientierten Vereinen abgebaut und zugleich die neue Rechtsform des ‚Europäischen grenzüberschreitenden Vereins‘ geschaffen werden. Insbesondere die Anerkennung der Rechtspersönlichkeit soll für die durch den Vorschlag erfassten Vereine in der EU einheitlich gewährleistet werden und eine Mehrfachregistrierung vermieden werden. Für die nicht durch den Vorschlag geregelten Aspekte sollen die Mitgliedstaaten die Europäischen Vereine gleichsam den nationalen nicht-gewinnorientierten Vereinen behandeln. Auf dem Portal der EU-Kommission kann zu dem Richtlinienvorschlag Rückmeldung gegeben werden. Als nächster Schritt wird der Vorschlag den Co-Gesetzgebern EU-Parlament und Rat zur Prüfung vorgelegt.

Neues KMU-Entlastungspaket u.a. gegen Zahlungsverzug – KOM

Nachdem mehrere Studien und Bewertungen ergeben hatten, dass die Richtlinie 2011/7/EU  zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr nicht hinreichend wirksam ist, hat die EU-Kommission am 12. September 2023 einen neuen Verordnungsentwurf zur Bekämpfung von Zahlungsverzug vorgelegt. Durch die Verordnung wird eine strengere Zahlungsfrist von 30 Tagen eingeführt. Zudem werden neue Maßnahmen eingeführt, um Unternehmen vor „schlechten Zahlern“ zu schützen, wie etwa die automatische Zahlung von aufgelaufenen Zinsen und Entschädigungsgebühren. Die Verordnung ist Bestandteil eines Pakets zur Entlastung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Dieses umfasst auch eine Richtlinie zu einem hauptsitzbasierten Steuersystem für KMU, um das Risiko von Doppel- und Überbesteuerung und Besteuerungsstreitigkeiten auf ein Minimum zu reduzieren. Außerdem sieht eine Mitteilung der Kommission zur Entlastung von KMU einige nichtlegislative Maßnahmen vor.

BEFIT: Neuer Rechtsrahmen für die Unternehmensbesteuerung – KOM

Die EU-Kommission hat am 12. September 2023 ihren „BEFIT“-Richtlinienvorschlag COM(2023)532 (Business in Europe: Framework for Income Taxation) veröffentlicht (vgl. PM). Mit der Initiative soll ein einheitliches Regelwerk für die Unternehmensbesteuerung eingeführt werden. Der Vorschlag folgt auf eine öffentliche Konsultation (vgl. EiÜ 36/22). Nach dem Vorschlag, der auf den OECD-Arbeiten zur Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung und der Richtlinie (EU) 2022/2523 des Rates zur Gewährleistung einer globalen Mindestbesteuerung basiert (vgl. EiÜ 44/22), werden die Befolgungskosten sowie das Risiko der Doppelbesteuerung für grenzüberschreitend tätige Unternehmen reduziert, indem die Berechnung der Steuerbemessungsgrundlage nach gemeinsamen Regeln für Unternehmen derselben Gruppe (BEFIT Gruppe) erfolgt. Für jedes Mitglied wird ein prozentualer Anteil an dem einheitlichen Steuersatz berechnet, wobei der Durchschnitt der Ergebnisse der letzten drei Steuerjahre zugrunde gelegt wird. Unter den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen in der EU tätige Unternehmen einer Unternehmensgruppe mit einem Jahresumsatz von mindestens 750 Mio. Euro. Eine BEFIT Gruppe besteht mit einem Geltungszeitraum von fünf Jahren aus mindestens zwei Unternehmen, wobei der Muttergesellschaft mindestens 75% der Eigentumsrechte direkt oder indirekt zustehen muss. Nun muss der Rat nach Konsultation des EU-Parlaments die Richtlinie beschließen.

Verwaltungszusammenarbeit in Steuersachen wird verschärft – EP

Das EU-Parlament hat in seiner Plenarsitzung am 13. September 2023 für die Annahme des Berichts zum Richtlinienvorschlag zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung gestimmt (DAC 8). Die nun achte Überarbeitung der Richtlinie weitet die EU-Steuertransparenzvorschriften so aus, dass auch Kryptowerte und elektronische Währungen unter den automatischen Informationsaustausch zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten fallen. Ebenso sieht der Vorschlag Regelungen zur Übermittlung von grenzüberschreitenden Steuervorbescheiden für wohlhabende Einzelpersonen, d.h. solche mit einem Gesamtvermögen von mindestens 1 Mio. Euro, vor. Ausgehend von der Position des EU-Parlaments soll der verpflichtende Informationsaustausch hinsichtlich vermögender Einzelpersonen auch dann gelten, wenn es sich nicht um grenzüberschreitende Steuervorbescheide handelt. Die Abgeordneten halten allerdings an der im Kommissionsvorschlag vorgesehenen Ausnahme hinsichtlich Informationen, die zur Preisgabe von Berufsgeheimnissen führen könnte, fest. Ebenso bleibt die Möglichkeit der Befreiung von Meldepflichten für Intermediäre, die sonstigen gesetzlichen Verschwiegenheitspflichten unterliegen. Im Rahmen der Sanktionen wird im Unterschied zu den nach der Kommissionsposition vorgesehenen konkreten Mindestgeldbußen eine Obergrenze von 1% des Gesamtumsatzes festgelegt.

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