Europa im Überblick, 31/2022

EiÜ 31/2022

Nach der Vorratsdatenspeicherung ist vor der Vorratsdatenspeicherung – EuGH

Am 20. September 2022 entschied der EuGH im Fall SpaceNet und Telekom Deutschland (verb. Rs. C-793/19 und C-794/19), was sich seit Jahren abgezeichnet hatte: die deutsche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung ist nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Die Regelung sah die unterschiedslose, zehnwöchige Speicherung der Verbindungsdaten von Telefon und Internet wie auch eine vierwöchige Speicherung von Standortdaten vor und liegt seit 2017 auf Eis. Der EuGH wiederholte nun seine inzwischen gefestigte Rechtsprechung seit der Rs. Tele 2 Sverige und Watson und erklärte die anlasslose Vorratsspeicherung für unionsrechtswidrig. Der EuGH präzisiert jedoch einige Ausnahmen, in denen die Vorratsdatenspeicherung gleichwohl zulässig ist: beispielsweise im Falle einer auf Orte oder Personen konzentrierten Datenspeicherung oder der Speicherung von IP-Adressen im Internet. Bei einer drohenden Gefahr für die nationale Sicherheit solle sogar die allgemeine und unterschiedslose Speicherung auf Vorrat möglich sein. Wie genau es nun weitergeht ist unklar: Während Innenministerin Faeser (SPD) sich bereits für eine Speicherung von IP-Adressen aussprach, kündigte Justizminister Buschmann (FDP) die zeitnahe Streichung der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung aus dem deutschen Telekommunikationsgesetz an. Die nächsten Schritte verrät das Anwaltsblatt. Und: Der DAV begrüßt die Entscheidung in einer Pressemitteilung.

Mehr Sicherheit bei Produkten mit digitalen Elementen – KOM

Die EU-Kommission hat am 15. September 2022 einen Verordnungsvorschlag (in Englisch) zur Cybersicherheit von Produkten mit digitalen Elementen vorgelegt. Diese legt Regeln für das Inverkehrbringen und den gesamten Lebenszyklus von Produkten mit digitalen Elementen zur Gewährleistung der Cybersicherheit fest. Der DAV hatte sich bereits mit Stellungnahme 29/2022 an der Öffentlichen Konsultation der EU-Kommission beteiligt und sich für bindende legislative Regelungen zur Cybersicherheit ausgesprochen. Der Verordnungsvorschlag verfolgt einen risikobasierten Ansatz und sieht spezifische Konformitätsbewertungsverfahren für besonders kritische Produkte, die ein hohes Cybersicherheitsrisiko aufweisen, vor. Eine CE-Kennzeichnung für Produkte mit digitalen Elementen ist vorgesehen, um ihre Konformität mit dieser Verordnung anzuzeigen. Die Mitgliedstaaten sollen eine Konformitätsbewertungsstelle einrichten, die von der Organisation oder dem Produkt, das sie bewertet, unabhängig ist. Die Nichteinhaltung der grundlegenden Cybersicherheitsanforderungen und die Erteilung falscher Auskünfte an die kompetenten Stellen werden mit hohen Verwaltungsgeldstrafen geahndet. Bis zum 18. November 2022 besteht eine Rückmeldungsmöglichkeit zum Verordnungsvorschlag. Im nächsten Schritt werden die Co-Gesetzgeber, EU-Parlament und Rat, über den Vorschlag beraten.

Stellungnahme zur Digitalisierung der justiziellen Zusammenarbeit – DAV  

Der DAV hat zur Digitalisierung der grenzüberschreitenden justiziellen Zusammenarbeit Stellung genommen. Gegenstand der Stellungnahme 51/2022 der Ausschüsse Zivilverfahrensrecht und Strafrecht ist der Verordnungsentwurf über „die Digitalisierung der justiziellen Zusammenarbeit und des Zugangs zur Justiz in grenzüberschreitenden Zivil-, Handels- und Strafsachen […]“ Dieser sieht vor allem die elektro­nische Kommuni­kation unter den zuständigen Behörden und Gerichten sowie mit den Parteien vor, sowie die Durchführung von Videokonferenzen  (vgl. EiÜ 38/21; 18/22). Der DAV begrüßt den Ausbau der Digitalisierung zugunsten einer sicheren und zeiteffizienten Kommunikation, kritisiert in seiner Stellungnahme aber die teilweise zu ungenauen Begrifflichkeiten des Verordnungsvorschlags sowie die Tatsache, dass der Einsatz von Videokonferenzen unter den Vorbehalt der technischen Verfügbarkeit gestellt wird. Die Zustimmung zur Nutzung des elektronischen Kommunikationsmittels sollte ferner widerrufen werden und eine Videokonferenz nicht gegen den Willen einer Partei angeordnet werden können. Bestehende Systeme zur elektronischen Kommunikation sollten weiterhin genutzt werden können und insofern mit dem neuen europäischen elektronischen Zugangspunkt interoperabel sein.  

Endlich unbesorgt reisen? – KOM

Die EU-Kommission führt seit dem 14. September 2022 eine öffentliche Konsultation zum besseren Schutz von Reisenden und deren Rechten durch. Hintergrund für die Initiative der EU-Kommission sind unter anderem die während der COVID-19-Pandemie sowie im Sommer 2022 aufgetretenen Probleme. Dabei zielt die Konsultation auf eine mögliche Regelung folgender Aspekte ab: Der finanzielle Schutz von Fluggästen vor dem Risiko einer Liquiditätskrise oder Insolvenz des Luftfahrtunternehmens, die Gewährleistung der Erstattung des über einen Flugscheinvermittler (z.B. Reisebüro) gebuchten Flugscheins sowie die Erstattung nach einer Annullierung durch Fluggäste im Falle einer schweren Krise – beispielsweise einer Pandemie oder einer Naturkatstrophe. Über diese drei, auf den Fluggastverkehr beschränkten Maßnahmen hinaus, thematisiert die Konsultation die Frage nach notwendigen EU-Vorschriften zu Passagierrechten bei Reisen mit kombinierten Verkehrsträgern sowie die Frage der besseren Durchsetzung der Passagierrechte. Der Europäische Rechnungshof hatte in einem Sonderbericht 2021 auf einen ungenügenden Schutz der Fluggastrechte hingewiesen. Eine Teilnahme an der öffentlichen Konsultation ist noch bis zum 7. Dezember 2022 möglich, die Annahme des entsprechenden Gesetzgebungsvorschlags durch die EU-Kommission ist planmäßig für das erste Quartal 2023 vorgesehen.

Russland nicht mehr durch EMRK gebunden– Europarat

Seit dem 16. September 2022 ist Russland keine Vertragspartei der EMRK mehr. Nachdem Russland aufgrund des Angriffskrieges gegen die Ukraine am 16. März 2022 nach 26 Jahren Mitgliedschaft aus dem Europarat ausgeschlossen wurde (vgl. Resolution, in Englisch) erfolgte nun, sechs Monate später, die offizielle Beendigung der Mitgliedschaft. Gemäß der Konvention war die Russische Föderation in diesen sechs Monaten rechtlich dazu verpflichtet, alle Urteile und Entscheidungen des EGMR, die sich auf ihre Handlungen oder Unterlassungen beziehen, umzusetzen. Wegen des Ausscheidens Russlands wird zukünftig kein russischer Richter dem Gericht mehr beiwohnen. Der Gerichtshof ist weiterhin für 17.450 Klagen zuständig, die sich gegen die Russische Föderation richten (vgl. EiÜ 12/22) und bis zum 16. September 2022 eingereicht wurden. Anfang September bedauerte die Generalsekretärin des Europarates, Marija Pejčinović Burić, die durch den Austritt voranschreitende weitere Abkehr Russlands von der demokratischen Welt. Dies bedeute zudem den Verlust des Schutzes der Konvention für 140 Millionen Russen, für die der Europarat hingegen sein Möglichstes tun werde, um Gerechtigkeit und Rechenschaft für die betroffenen Menschen zu gewährleisten.

Veranstaltungshinweis: Konferenz des Weimarer Dreiecks – DAV

Am 21. Oktober 2022 findet die zweite Konferenz des Weimarer Dreiecks der Anwaltschaften (Pariser und Warschauer Anwaltskammer sowie DAV) in Paris zum Thema Rechtsstaatlichkeit statt. In drei Panels soll dabei der Frage nachgegangen werden, wie die Rechtsstaatlichkeit geschützt werden kann. Wie können rechtsstaatliche Mechanismen und Garantien in einem sich im Kriegszustand befindenden Land geschützt werden? Wie können die Vertreterinnen und Vertreter der Rechtsberufe auch auf europäischer Ebene agieren, um unsere gemeinsamen Werte und rechtsstaatlichen Prinzipien zu fördern? Welche rechtlichen Möglichkeiten gibt es um die Unabhängigkeit des Berufsstandes zu sichern? Diesen und weiteren Fragen soll während der Konferenz nachgegangen werden. Die Teilnahme ist kostenlos. Weitere Programminformationen und eine Registrierung für die Konferenz sind hier möglich.

Ohne Hinweis des Arbeitgebers verjährt Jahresurlaub nicht – EuGH

Arbeitgeber müssen ihre Mitarbeiter auf Resturlaub hinweisen, um die Verjährungsregeln der §§ 194 ff. BGB in Gang zu setzen. Der EuGH hatte über ein Vorabentscheidungsersuchen (Rs. C-120/21) des Bundesarbeitsgerichts bezüglich der Abgeltung des bezahlten Jahresurlaubs (vgl. EiÜ 17/22), zu entscheiden. Dabei ging es um die Frage, ob der Lauf der Verjährungsfrist beginnen und enden kann, ohne dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit gegeben hat, seinen Urlaub in Anspruch zu nehmen. Laut EuGH verstößt eine nationale Regelung, bei der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf einer Frist von drei Jahren verjährt, gegen Art. 7 der RL 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRCh, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen. Begründet hat der EuGH seine Entscheidung damit, dass dem Arbeitnehmer als schwächere Partei innerhalb des Arbeitsverhältnisses nicht alleine die Pflicht obliegen könne, den Anspruch auch tatsächlich wahrzunehmen. Der Arbeitgeber habe zumindest eine Hinweis- und Aufforderungsverpflichtung. Andernfalls würde ein Verhalten gebilligt werden, dass zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führen würde. Das Bundesarbeitsgericht muss nun prüfen, inwieweit im vorliegenden Fall der Hinweis- und Aufforderungsverpflichtung nachgekommen wurde.

Unzulässigkeit ausgesetzter Überstellungsfristen im Asylverfahren EuGH

Am 22. September 2022 hat der EuGH zu zwei Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich der Überstellungsfrist in Asylverfahren entschieden. In den Verfahren C-245/21 und C-248/21 ging es um die Frage, ob die Frist zur Überstellung eines Antragstellers von einem Mitgliedstaat in den gemäß der Dublin‑III‑Verordnung zuständigen Mitgliedstaat unterbrochen wird, wenn die Vollziehung der Überstellungsentscheidung von den Behörden auf Art. 27 Abs. 4 gestützt mit der Begründung ausgesetzt wird, diese sei aufgrund der COVID-19-Pandemie praktisch unmöglich. Der EuGH erteilte dem eine Absage, da hierdurch die zuständigen Behörden die Durchführung von Überstellungsentscheidungen aus einem Grund aussetzen könnten, der nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem gerichtlichen Rechtsschutz der betroffenen Person stünde. Damit bestünde die Gefahr, der Überstellungsfrist jegliche Wirksamkeit zu nehmen, die Aufteilung der gesetzlichen Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten zu verändern sowie die Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz dauerhaft zu verlängern. Folglich sei davon auszugehen, dass eine Aussetzung der Durchführung einer Überstellungsentscheidung nur dann angeordnet werden darf, um der betroffenen Person einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten. Der EuGH folgte somit den Schluss­an­trägen des General­anwalts Pikamäe vom 2. Juni 2022 (vgl. EiÜ 21/22).

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