Europa im Überblick, 35/2025

Deutschland gibt Chatkontrolle vorübergehend Korb – Rat

Der Kompromissvorschlag der dänischen Ratspräsidentschaft zum Entwurf der CSAM-Verordnung zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern (sogenannte Chatkontrolle) ist nicht mehrheitsfähig. Das war das Ergebnis der Diskussionen in dieser Woche im Rat. Der DAV hatte zuvor nochmals eindringlich an die Bundesregierung appelliert, beim „Nein“ zur Chatkontrolle auf EU-Ebene zu bleiben (s. bereits das Schreiben des DAV-Präsidenten an den Bundesinnenminister vom Juli 2025 und die DAV-Stellungnahme 32/2023). Dr. David Albrecht, Mitglied des Ausschusses Recht der Inneren Sicherheit, warnte gegenüber netzpolitik.org, kritisch sei schon die anlasslose Massenüberwachung als solche, die auch tiefe Einschnitte in die anwaltliche Vertraulichkeit bedeuteten würde – denn eine generelle Ausnahme der Kommunikation zwischen Anwält:innen und Mandantschaft sei nicht möglich und nicht vorgesehen. In der Pressemitteilung des DAV führte DAV-Hauptgeschäftsführerin Dr. Sylvia Ruge aus, die Chatkontrolle sei das digitale Pendant zu einem Postamt, in dem jeder versandte Brief geöffnet und kontrolliert wird. Die deutsche Bundesregierung erklärte Mitte der Woche, den Vorschlag der dänischen Ratspräsidentschaft abzulehnen, was der DAV ausdrücklich begrüßte.

Unverhältnismäßige Disziplinarmaßnahme gegen Anwalt – EGMR

Die Entziehung der anwaltlichen Zulassung wegen öffentlicher Aussagen über Misshandlungen eines in Haft befindlichen Mandanten stellt eine Verletzung von Art. 10 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (Freiheit der Meinungsäußerung) und Art. 8 Abs. 1 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) dar. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 7. Oktober 2025 in der Rechtssache Imanov/Aserbaidschan (appl. No. 62/20). Der aserbaidschanische Menschenrechtsanwalt Yalchin Imanov hatte 2017 bei seinem in Haft befindlichen Mandanten Spuren von Misshandlung festgestellt und die mutmaßlich verantwortlichen Gefängnismitarbeiter öffentlich benannt. Die aserbaidschanische Anwaltskammer leitete daraufhin ein Disziplinarverfahren ein, das in seiner dauerhaften Streichung von der Anwaltsliste mündete. Nationale Gerichte bestätigten die ehrverletzende Wirkung seiner Äußerungen und wiesen Verfahren als unbegründet ab. Der EGMR stellte nun klar, dass die getätigten Aussagen über die vorherrschenden Haftbedingungen von erheblichem öffentlichem Interesse gewesen seien und folglich keineswegs von vornherein unbegründet. Die Sanktionen seien unverhältnismäßig und die Entscheidungen der nationalen Gerichte nur unzureichend begründet. Sie stellen einen tiefen Eingriff in die berufliche und soziale Existenz des Anwalts dar und damit auch eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 EMRK. Darüber hinaus entfalteten sie eine nicht hinnehmbare abschreckende Wirkung für die anwaltliche Berufsausübung.

PACE-Resolution zu KI im Migrationsmanagement – Europarat

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) hat am 3. Oktober 2025 eine Resolution zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Migrationsmanagement verabschiedet. Nach der Resolution 2628 (2025) müsse der Einsatz von KI „in allen Phasen der Migration“ ein Gleichgewicht zwischen Effizienzsteigerungen und dem Schutz der Menschenrechte herstellen. Das PACE-Plenum stellt fest, dass KI etwa bereits bei der Grenzüberwachung, den Visaverfahren und bei Integrationsmaßnahmen verwendet wird. Die parlamentarische Versammlung fordert, dass KI menschliche Entscheidungen nicht ersetzt und transparent sowie frei von Diskriminierung zum Einsatz komme. Der Einsatz von biometrischer Identifikation und predictive policing müsse auf das strikt notwendige und verhältnismäßige Maß begrenzt bleiben und die entsprechenden Daten verschlüsselt und dem authorisierten Personal vorbehalten bleiben. Mit Blick auf den Einsatz von KI im Asylverfahren müsse der Zugang zu Rechtsmitteln sichergestellt sein, auch hinsichtlich KI-generierten Datenmaterials und Beweismitteln. Bestimmte Praktiken wie die Emotionserkennung und die auf ethnischer oder nationaler Zugehörigkeit basierende Risikoanalyse seien daher zu verbieten, da diese Technologien wissenschaftlich nicht fundiert und unvereinbar mit der EMRK seien. Gerade mit Blick auf den Hochrisikocharakter von KI im Sinne der Europäischen KI-Verordnung müsse sichergestellt werden, dass das Non-Refoulement-Prinzip oder die Genfer Flüchtlingskonvention gewahrt bleiben.

"Apply AI"-Strategie: KI gezielt in Schlüsselbereichen einsetzen - KOM

Am 8. Oktober 2024 präsentierte die EU-Kommission ihre „Apply AI“-Strategie, die die Wettbewerbsfähigkeit strategischer Sektoren und die technologische Souveränität der EU stärken soll (vgl. dazu bereits EiÜ 4/25; 14/25). Ein zentraler Punkt der Strategie ist der „AI first“-Ansatz, der sicherstellen soll, dass Künstliche Intelligenz (KI) bei strategischen Entscheidungen immer berücksichtigt wird. Zudem wird ein "Buy European"-Ansatz, insb. im öffentlichen Sektor, gefördert. Wichtige Maßnahmen umfassen die Förderung von KI-Lösungen für die innere Sicherheit und Cybersicherheit, die Entwicklung einer KI-Toolbox für die öffentliche Verwaltung und die Beschleunigung der Einführung europäischer KI-Lösungen. Um die europäische Souveränität zu steigern, sollen europäische KMU durch digitale Innovationszentren und spezielle Förderprogramme für KI unterstützt werden. Darüber hinaus sieht die Strategie die Schaffung eines neuen Governance-Systems vor, das die Zusammenarbeit zwischen Stakeholdern, der Industrie und der Politik fördern soll. Die EU plant zudem, eine AI-Observatorium einzurichten, um die Auswirkungen von KI in verschiedenen Sektoren zu überwachen und zukünftige Entwicklungen besser abzuschätzen. Schließlich wird die Notwendigkeit betont, die globale KI-Konkurrenz mit enger Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten und internationalen Partnern anzugehen.

Forderungsabtretung berührt nicht die internationale Zuständigkeit – EuGH

Eine Person kann grundsätzlich auch dann in einem anderen Mitgliedstaat der EU als ihrem Wohnsitzstaat verklagt werden, wenn die Klage in Folge einer Forderungsabtretung erhoben wird. Zu diesem Ergebnis kam der EuGH in seiner Entscheidung vom 9. Oktober 2025 in der Rechtssache C‑551/24 auf eine Vorlagefrage des Krakauer Regionalgerichts. Im Ausgangsfall war ein Inkassounternehmen aus abgetretenem Recht eines Fluggastreisenden vor dem Krakauer Regionalgericht gegen die deutsche Lufthansa vorgegangen. Gegenstand des Abtretungsvertrags war eine Ausgleichszahlung wegen eines von Krakau aus durchgeführten verspäteten Flugs. Die Lufthansa wendete ein, nach der allgemeinen Zuständigkeitsregelung der Verordnung (EU) 2015/2012 seien nur die deutschen Gerichte seien zuständig. Der EuGH stellte in seiner Entscheidung allerdings klar, die Tatsache, dass zwischen den Parteien des Rechtsstreits kein Beförderungsvertrag geschlossen wurde, stehe der Anwendung der besonderen Zuständigkeitsregel aus Art. 7 Nr. 1 lit. b) nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift kann eine Person in den dort genannten Fällen auch in einem anderen Mitgliedstaat der EU verklagt werden als ihrem Wohnsitzmitgliedstaat. Maßgeblich bleibt, die enge Verknüpfung zwischen dem Vertrag und dem Gericht, in dessen Bezirk der Ort gelegen ist, an dem die Dienstleistung erbracht wurde oder hätte erbracht werden müssen.

Auslegung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl – EuGH

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 9.Oktober 2025 in der Rs. C798/23 die Auslegung des Begriffs „Verhandlung [..], die zu der Entscheidung geführt hat“ gem. Art. 4a Abs.1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl präzisiert. Ausgangspunkt war ein lettisches Urteil, welches nach Verbüßung einer Haftstrafe eine dreijährige polizeiliche Aufsicht vorsah. Wegen Verstößen gegen die damit verbundenen Auflagen wandelte ein Gericht die restliche Dauer im Verhältnis zwei Tage polizeiliche Aufsicht zu einem Tag Freiheitsstrafe um. Da der Betroffene nicht zur Anhörung erschien, wurde ein Europäischer Haftbefehl gegen ihn erlassen. Die irischen Gerichte lehnten die Auslieferung zunächst ab. Sie stuften die Umwandlung als eine Vollstreckungsmaßnahme ein, die auf der bereits verhängten Freiheits- und Überwachungsstrafe beruhte. Die reine Nichtanwesenheit des Betroffenen könne somit die Vollstreckung blockieren. Nach Vorlage des Irischen Supreme Courts entschied der EuGH jedoch, dass es sich um eine eigenständige Entscheidung handelt. Maßgeblich ist, dass die Gerichte ein Ermessen ausüben und damit über eine eigenständige Freiheitsstrafe entscheiden, die sich auf den Verstoß gegen die Auflagen stützt. Damit liegt eine „Entscheidung“ i.S.d. Art. 4a Abs.1 vor. Die Auslieferung darf somit nicht allein mit der Abwesenheit des Betroffenen begründet werden, es sei denn eine Ausnahme des Artikels greift.

Europa im Überblick abonnieren

Verpassen Sie keine wichtigen rechtlichen Entwicklungen in Europa! Abonnieren Sie unseren E-Mail-Newsletter „Europa im Überblick“ und bleiben Sie stets informiert über die neuesten EU-Gesetzgebungen, Rechtsprechungen und deren Auswirkungen auf Ihre Praxis.

Kommentare

0 Kommentare zum Artikel
Bitte rechnen Sie 3 plus 7.