Europa im Überblick, 36/2023

EiÜ 36/2023

Chatkontrolle: Grundrechtsbedenken finden endlich Gehör – EP

Im Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des Europäischen Parlaments konnte am 26. Oktober 2023 ein wichtiger fraktionsübergreifender Kompromiss erzielt werden, der die CSAM-Verordnung („Chatkontrolle“) offenbar auf grundrechtskonforme Füße stellen würde. Anders als der Verordnungsvorschlag und der Berichtsentwurf ist in dem Kompromiss vorgesehen, nicht mehr anlasslos Bildmaterial auf CSAM (kinderpornographisches Material) zu durchleuchten und bei der nunmehr verdachtsbezogenen Überprüfung auch Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu wahren (s. Pressekonferenz vom 26. Oktober 2023). Aufdeckungsanordnungen dürfen bzgl. "einzelner Nutzer oder einer bestimmten Gruppe" im Falle "begründeter Verdachtsmomente für einen Zusammenhang mit CSAM“ erlassen werden, und zwar durch eine "zuständige Justizbehörde". Ein neues Kinderschutzzentrum soll proaktiv öffentlich abrufbare Internetinhalte automatisiert nach bekannten Missbrauchsdarstellungen durchsuchen und sofort zur Löschung melden. Hier soll der Grundsatz „Löschen statt lediglich Sperren“ gelten. Mit Appvoreinstellungen soll eine Ansprache nur auf Wunsch und ein Übersenden von Nacktbildern nur bei Einvernehmlichkeit möglich sein. Voraussichtlich am 13. November soll der Ausschuss den Kompromiss annehmen. Im Rat laufen derweil weiter die Arbeiten an einer allgemeinen Ausrichtung.

Parlamentarisches Frühstück zur Reform des europäischen Asylrechts – DAV

Am 24. Oktober 2023 hat der DAV zusammen mit Terre des Hommes International und dem Deutschen Institut für Menschenrechte unter der Schirmherrschaft der Abgeordneten Birgit Sippel (S&D) ein parlamentarisches Frühstück zur Reform des gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) veranstaltet. Hierbei haben der DAV und die anderen beteiligten Organisationen gegenüber den anwesenden Vertretern von EU-Parlament, Rat und EU-Kommission auf die erheblichen grund- und menschenrechtlichen Bedenken hingewiesen, die mit Blick auf zahlreiche Bestimmungen der Verordnungsvorschläge unter dem Aspekt des Zugangs zum Recht bestehen, vgl. bereits DAV-SN 8/21 („Neuer Pakt zum Asyl- und Migrationsrecht“, vgl. zuletzt EiÜ 33/23; 22/23; 15/23). Rechtsbehelfsfristen werden durch die Vorschriften erheblich verkürzt, eine aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen ist nur teilweise vorgesehen und die vorgesehenen Grenzverfahren erfolgen in haftähnlichen Bedingungen, bei denen eine Prüfung des Einzelfalls kaum gewährleistet werden kann. Die laufenden Trilogverhandlungen (insbesondere betreffend die Vorschläge der Screening-Verordnung, der Asylverfahrensverordnung (hier, bzw. hier), die „Krisen-Verordnung“, sowie die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung) werden mit Hochdruck betrieben, da vor allem die amtierende spanische Ratspräsidentschaft die Reform vor Jahresende zum Abschluss bringen will.

KI-Verordnung in der heißen Phase, Kritikpunkte bleiben – DAV

Der DAV begrüßt die seitens der Co-Gesetzgeber zur geplanten KI-Verordnung gemachten Änderungsvorschläge teilweise, äußert jedoch auch Kritik (SN Nr. 74/2023). Der DAV hat erneut Stellung genommen zu dem im Gesetzgebungsverfahren bereits weit voran geschrittenen Entwurf der EU-Kommission einer KI-Verordnung (s. vorherige SN Nr. 57/2021). Anlass für die erneute Beteiligung waren die umfangreichen Änderungsvorschläge des Rates der EU und des Europäischen Parlaments. Der DAV begrüßt die Änderungsvorschläge hinsichtlich der Beschränkung des Anwendungsbereichs und die Berücksichtigung von Risiken, die generative KI-Systeme wie ChatGPT mit sich bringen. Nach Meinung des DAV fehlt es jedoch weiterhin an datenschutzrechtlichen Rechtsgrundlagen und präzisen Definitionen, um den Anwendungsbereich der Verordnung zu begrenzen sowie Regulierungsansätzen für Basismodelle und KI-Systemen mit allgemeinen Verwendungszwecken. Zudem verlangt der DAV aufsichtsbehördliche Genehmigungsverfahren auf ein Minimum zu begrenzen und für mehr Verhältnismäßigkeit zwischen Grundrechtsschutz und Überregelungsansätzen zu sorgen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu garantieren. Ein Abschluss der derzeit laufenden Trilogverhandlungen zwischen den europäischen Gesetzgebungsorganen wird voraussichtlich für Ende des Jahres erwartet.

Generalanwältin: EncroChat Daten durften abgerufen werden – EuGH

Die vom gehackten verschlüsselten Kommunikationsdienst EncroChat abgerufenen Daten durften im Wege der Rechtshilfe grenzüberschreitend von Deutschland aus Frankreich abgerufen werden. Dieser Ansicht ist Generalanwältin Ćapeta in ihren Schlussanträgen vom 26. Oktober 2023 in der Rs. C-670/22 (Staatsanwaltschaft Berlin). Eine Staatsanwaltschaft könne demnach eine Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) zur Übermittlung von Beweismitteln, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat erhoben wurden, erlassen, wenn nach dem für diese Staatsanwaltschaft geltenden nationalen Recht in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall eine Übermittlung angeordnet werden kann. In einem solchen Fall dürfe die Behörde, die eine EEA erlässt, die Rechtmäßigkeit der Erhebung dieser Beweismittel im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht prüfen. Da die EEA-Richtlinie 2014/41 es einer in einem bestimmten Fall zuständigen Staatsanwaltschaft erlaube, eine EEA zu erlassen, und das deutsche Recht offenbar nicht verlange, dass ein Gericht eine vergleichbare nationale Übermittlung genehmige, ist die Generalanwältin der Auffassung, dass die deutsche Staatsanwaltschaft befugt gewesen sei, die in Rede stehenden EEA zu erlassen. Das Unionsrecht verlange insofern nicht, dass diese von einem Gericht erlassen würden. Schließlich richte sich die Zulässigkeit von möglicherweise unter Verstoß gegen Unionsrecht erlangten Beweismitteln nicht nach Unions-, sondern nach nationalem Recht, sofern die Verteidigungsrechte aus Art. 47 und 48 der Charta gewahrt würden. Fraglich ist, ob der EuGH der Generalanwältin folgen wird – das Urteil folgt in wenigen Monaten.

Stellungnahme zu Haftungsregeln beim Einsatz künstlicher Intelligenz – EDSB

Der Europäische Datenschutzbeauftragte (EDSB) Wojciech Wiewiórowski fordert hinsichtlich der Haftungsregeln beim Einsatz künstlicher Intelligenz die Kohärenz zum Unionsrechtsrahmen zu wahren. Dies geht aus der am 11. Oktober 2023 veröffentlichten Stellungnahme (in Englisch) zu den Vorschlägen der EU-Kommission über eine Richtlinie zur KI-Haftung und die Überarbeitung der Produkthaftungsrichtlinie hervor (s. dazu EiÜ 34/23; 15/23; 32/22). Er betont, dass die Vorschläge das EU-Datenschutzrecht unberührt lassen, so wie ausdrücklich in der Produkthaftungsrichtlinie erklärt wird. Mangels Regelung in der Richtlinie zur KI-Haftung soll hier ein entsprechender Verweis eingefügt werden. Zur Kohärenz der Haftungsregeln mit dem AI Act (s. dazu EiÜ 23/23; 16/22; 37/21), dessen Anwendungsbereich die Organe und Einrichtungen der EU erfasst, sollen auch Personen geschützt werden, wenn sie Schäden erleiden, die durch von EU-Institutionen hergestellten oder genutzten KI-Systemen verursacht wurden. Der DAV hatte bereits aufgrund des Zusammenhangs zwischen den Rechtsakten mehr Rechtssicherheit gefordert (vgl. DAV-SN 71/2022; EiÜ 43/22). Weiterhin empfiehlt der EDSB, die Offenlegungspflicht und Vermutung eines Kausalzusammenhangs, die bzgl. Hochrisiko-Systemen gelten, auch auf Nicht-Hochrisiko-Systeme zu erstrecken. Im Übrigen spricht er sich für weitergehende Beweisführungserleichterungen aus.

Initiativbericht für eine digitale und effizientere Verwaltung der EU – EP

Der Rechtsausschuss (JURI) des EU-Parlaments hat am 24. Oktober 2023 den Berichtsentwurf mit Empfehlungen an die EU-Kommission zur Digitalisierung und dem Recht der öffentlichen Verwaltung mit Änderungen angenommen. Die Abgeordneten fordern unter Hinweis auf Art. 41 GRCh, dem „Recht auf eine gute Verwaltung“ sowie auf die „Erklärung zu den europäischen digitalen Rechten und Grundsätzen“ (hier abrufbar), dass die EU-Kommission auch die Grundsätze einer guten Verwaltung in verbindlichen Rechtsvorschriften verankert. Das würde sowohl die Transparenz, als auch die Effizienz der EU- Verwaltung erhöhen. Angeregt wird eine Verordnung über eine offene, effiziente und unabhängige Verwaltung der Europäischen Union. Darin sollen Leitprinzipien für die Digitalisierung der administrativen Verfahren aufgestellt werden, etwa digitale Dienste, die auch älteren oder schutzbedürftigen Menschen zugänglich sind, Online-Tutorials zum besseren Verständnis der Nutzung, aber auch die Berücksichtigung des „Grundsatz der einmaligen Übermittlung“ oder des Grundsatzes „Öffentliche Gelder-öffentlicher Code“. Die von den Abgeordneten geforderte Verordnung soll sich an der bereits im Jahre 2016 gefassten Entschließung orientieren. Der Initiativbericht muss noch durch das Plenum angenommen werden. Anschließend muss sich die EU-Kommission damit befassen.

Menschenhandel: Start der Trilogverhandlungen – EP

Der Bericht zum Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels wurde am 18. Oktober 2023 vom Plenum des EU-Parlaments gemäß der Geschäftsordnung des EU-Parlaments ohne Abstimmung angenommen. Die Abgeordneten setzen sich im Verhältnis zum Kommissionsvorschlag für eine effektivere Bekämpfung des Menschenhandels und ein höheres Niveau des Opferschutzes ein (s. dazu auch EiÜ 33/23; 13/21; 5/21). So sollen Sanktionen gegenüber juristischen Personen verschärft werden. Es soll sichergestellt sein, dass der Verzicht auf Strafverfolgung und Betreuungsmaßnahmen nicht von der Kooperation des Opfers bei Ermittlungen abhängig ist. Eine Entschädigung soll den Betroffenen ungeachtet dessen gewährt werden, ob eine Gewalttat vorsätzlich begangen oder ein gerichtliches Verfahren angestrengt wurde. Die ersten Trilogverhandlungen mit dem Rat stehen im November an.

Hochrangiges Event zum European Lawyers Day – CCBE

Am 23. Oktober 2023 fand im Rahmen des Europäischen Anwaltstages (ELD) eine Veranstaltung zur Rolle der europäischen Institutionen bei der Wahrung der Grundwerte des Anwaltsberufs statt. Die vom europäischen Dachverband der Anwaltschaft (CCBE) organisierte Veranstaltung diente der Beleuchtung der grundlegenden Aspekte des Anwaltsberufes, schwerpunktmäßig widmete sie sich dem Berufsgeheimnis. Hochrangige Vertreter:innen der EU-Institutionen und des Europarates, darunter Marija Pejčinović Burić, Generalsekretärin des Europarats, der Justizkommissar Didier Reynders und Mattias Guymor, Richter am EGMR saßen in den verschiedenen Podien. Zentrale Fragen waren dabei, welche Bedeutung eine unabhängige Anwaltschaft für die Rechtspflege hat und inwiefern diese rechtlich abgesichert ist. Auch der Frage nach neuen Technologien - KI als Hilfestellung oder Gefahr? - und den Folgen für die Rechtspraxis wurde nachgegangen. Das Thema Vertraulichkeit wurde insbesondere dahingehend diskutiert, ob die derzeitigen Rechtsnormen ausreichend sind, um die Beziehung zwischen Anwalt und Mandant zu schützen. Die gesamte Veranstaltung kann hier abgerufen werden.

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