Europa im Überblick, 41/19

EiÜ 41/19

Europäischer Abend: Appell für Solidarität und Bürgernähe – DAV

Die Unabhängigkeit der Justizsysteme in der EU war nur eines der vielen Themen, das die Teilnehmer des diesjährigen Europäischen Abend am 20. November 2019 in Brüssel diskutiert haben. DAV-Präsidentin Edith Kindermann hob in ihrer Rede den Bedarf nach Solidarität in der EU am Beispiel der Lage der Migranten auf der Insel Lesvos und der Erfahrung im Projekt European Lawyers in Lesvos hervor. Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments Nicola Beer (Renew) forderte, dass die EU ihren Bürgern wieder nähergebracht werden müsse und sprach sich für einen neuen Verfassungskonvent aus. Die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly betonte, dass das europäische Gesetzgebungsverfahren bereits transparenter geworden sei, dass aber durchaus noch Verbesserungen möglich seien. Die Veranstaltung gibt Entscheidungsträgern aus EU-Institutionen und Verbänden und Mitgliedern aus Präsidium und Geschäftsführung des DAV die Gelegenheit zum Austausch aktuellen und künftigen Plänen der EU mit Relevanz für die Anwaltschaft.

Rechtsstaatlichkeitsbewertung scheitert an Polen und Ungarn – Rat

Der Vorschlag der finnischen Ratspräsidentschaft für Ratsschlussfolgerungen zur Reform des Rechtsstaatlichkeitsdialogs wurde von 26 der 28 Mitgliedstaaten unterstützt, scheiterte jedoch an der Ablehnung durch Ungarn und Polen. Die Ministerinnen und Minister befassten sich in einer Aussprache mit der Bewertung des jährlichen Rechtsstaatlichkeitsdialogs des Rates, u.a. mit dem Direktor der Europäischen Grundrechteagentur, Michael O’Flaherty. Der finnische Ratsvorsitz hatte den Mitgliedstaaten bereits im September 2019 ein Diskussionspapier zur Reform des seit 2014 jährlich stattfindenden Rechtsstaatlichkeitsdialogs vorgelegt (vgl. EiÜ 32/19). Aufgrund des langwierigen, ineffizienten Art. 7 EUV-Verfahrens wird statt der derzeitigen thematischen Beratungen eine jährliche allgemeine Aussprache über den Stand und die jüngsten Entwicklungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit vorgeschlagen. Finnland begrüßt zudem die am 17. Juli 2019 angenommene Mitteilung der Kommission über die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union. Außerdem fördert der Vorsitz die Initiative von Belgien und Deutschland zur Schaffung eines Peer-Review-Mechanismus und verspricht sich davon ein verstärktes gegenseitiges Verständnis und die Einheit zwischen den Mitgliedstaaten.

Kriterien für Unabhängigkeit polnischer Disziplinarkammer – EuGH                        

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 19. November 2019 (Rs. C-585/18, C-624/18, C-625/18, Pressemitteilung) Maßstäbe festgelegt, unter welchen Umständen die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts als hinreichend unabhängig anzusehen ist. Dem Urteil liegt ein Fall von drei Richtern polnischer Obergerichte zugrunde, die geltend machten, dass ihre vorzeitige Versetzung in den Ruhestand gegen das Diskriminierungsverbot verstoße. Zuständig hierfür ist nach einem Gesetz aus dem Jahr 2017 die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts. Die Richter der Kammer werden vom Präsidenten der Republik und somit nach politischen Kriterien ernannt. Der EuGH wies darauf hin, dass die Unabhängigkeit von Gerichten zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Rechts auf ein faires Verfahren gehört (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, Art. 47 GRCh). Die Disziplinarkammer sei jedoch dann unabhängig, wenn die Richter nach ihrer Ernennung ohne Druck und weisungsunabhängig entscheiden könnten. Der Handlungsspielraum des Präsidenten der Republik sei zudem begrenzt, zumal ein Landesjustizrat im Vorfeld der Ernennung die Richter vorschlägt. Nun hat das Oberste Gericht Polens als vorlegendes Gericht zu entscheiden, welches dem EuGH den Fall vorlegte. Im Oktober 2019 kündigte die Kommission in dieser Sache wegen eines möglichen Verstoßes gegen Unionsrecht ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen an (vgl. EiÜ 36/19). Zuvor hatte der EuGH bereits die polnischen Regeln über die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter am Obersten Gericht für mit EU-Recht unvereinbar erklärt (vgl. EiÜ 26/19).

Kleinunternehmen im Mittelpunkt neuer Mehrwertsteuerregeln – Rat

Der Rat hat sich am 8. November 2019 auf eine Position über vereinfachte Mehrwertsteuervorschriften für Kleinunternehmen geeinigt. Der dadurch für Kleinunternehmen verringerte Verwaltungsaufwand und die niedrigeren Befolgungskosten sollen deren Wachstum fördern und mehr grenzüberschreitenden Handel ermöglichen. Insbesondere wird eine in der gesamten EU geltende Mehrwertsteuerbefreiung für Kleinunternehmen eingeführt, die gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen soll. Außerdem werden Vorschriften in der Verordnung Nr. 904/2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden bei der Mehrwertsteuer geändert, sodass die verwaltungstechnische Zusammenarbeit der Steuerbehörden – insbesondere in Bezug auf die neuen Mehrwertsteuervorschriften – verbessert wird. Diese Vorschriften sollten vom Rat ohne weitere Aussprache förmlich angenommen werden, möglicherweise bis Ende des Jahres, sobald eine rechtliche und sprachliche Überarbeitung des Texts erfolgt ist.

EU vereinfacht grenzüberschreitende Mobilität von Gesellschaften – Rat

Nach Einigung mit dem Europäischen Parlament hat der Rat am 18. November 2019 den Kompromisstext der Richtlinie zu grenzüberschreitenden Sitzverlegung, Verschmelzungen und Spaltungen, als Teil des Gesellschaftsrechtspakets angenommen. Mit der Richtlinie werden nun erstmals Sitzverletzungen und Spaltungen grenzüberschreitend harmonisiert. Gleichzeitig sieht die Richtlinie strenge Schutzbestimmungen vor, insbesondere bezüglich der Rechte auf Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern, Minderheitsgesellschaftern und Gläubigern. Auch stellen die neuen Vorschriften sicher, dass Sitzverlegungen grenzüberschreitend tätiger Unternehmen nicht für betrügerische oder unlautere Zwecke missbraucht werden. Der Text wurde vor Annahme noch einmal umstrukturiert. Die Richtlinie ist eine von zwei Vorschlägen, die die Kommission im April 2018 zur Modernisierung des EU-Gesellschaftsrechts vorgelegt hat. Im Juni 2019 wurde bereits die Richtlinie 2019/1151/EU im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht angenommen.

Flashmob von der Menschenrechtskonvention geschützt – EGMR

In dem Fall Obote gg. Russland (Antragsnr. 58954/09) entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 19. November 2019, dass Flashmobs eine friedliche Versammlung gemäß Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellen und dementsprechend durch die Versammlungsfreiheit geschützt sein können. Der russische Antragssteller Andrey Obote hatte sich im Januar 2009 bei einem Flashmob vor einer Regierungsbehörde in Moskau mit sieben Personen beteiligt, die jeweils ein unbeschriebenes Blatt in die Höhe hielten und ihre Münder mit Klebeband überklebten. Die Polizei löste die Gruppe auf. Als der Antragssteller nach dem Grund der Anordnung fragte, wurde er in Gewahrsam genommen und anschließend zu einer Geldstrafe von 1.000 russischen Rubeln verurteilt. Die russische Regierung rechtfertigte die Auflösung nur damit, dass die Versammlung nicht vorher angemeldet wurde und dies eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle. Der EGMR befand dies als unverhältnismäßig zur Erreichung des rechtmäßigen Ziels. Denn die russischen Gerichte hätten das Potential des Flashmobs zur tatsächlichen Störung der öffentlichen Ordnung zu keinem Zeitpunkt gewürdigt. Hier sei von den örtlichen Behörden ein gewisser Grad an Toleranz angesichts einer friedlichen Versammlung von nur sieben Personen gefragt gewesen und sei deren Handeln nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ gewesen, wie die EMRK verlangt.

„Let kids be kids“ – 30 Jahre UN-Kinderrechtskonvention – EP

Anlässlich des 30. Jahrestages der UN-Konvention über die Rechte des Kindes erneuerten die Kommission und das Parlament auf einer Konferenz im Parlament ihr Versprechen zur Durchsetzung von Kinderrechten. Nach Auskunft der Kommission leben 25 Millionen Kinder in der EU und 19,5 % der Kinder weltweit weiterhin in Armut. Die Institutionen sind überzeugt, dass Kinder in den Dialog einbezogen werden müssen, um die Durchsetzung ihrer Rechte zu gewährleisten. Um diesen Austausch voranzutreiben, haben die EU und das UN-Kinderhilfswerk UNICEF eine Social-Media-Kampagne unter dem Stichwort #TheRealChallenge ins Leben gerufen. Herausforderungen bestehen insbesondere noch beim Schutz von geflüchteten Kindern, Kindern im Justizsystem, Kindern in der digitalen Welt, Kindern, die Minderheiten wie etwa den Roma angehören, Kindern mit Behinderungen und Kindern als Teil der LGBTQ-Gemeinschaft. Das EU-Parlament stimmt in der kommenden Woche über eine fraktionsübergreifende Entschließung ab, nach der Kommission und Mitgliedstaaten aufgefordert werden, Kindeswohlbelange noch verstärkt zu berücksichtigen.

Europa im Überblick abonnieren

Verpassen Sie keine wichtigen rechtlichen Entwicklungen in Europa! Abonnieren Sie unseren E-Mail-Newsletter „Europa im Überblick“ und bleiben Sie stets informiert über die neuesten EU-Gesetzgebungen, Rechtsprechungen und deren Auswirkungen auf Ihre Praxis.

Kommentare

0 Kommentare zum Artikel
Bitte rechnen Sie 2 plus 7.