EiÜ 9/2020
Resolution von über 50 Anwaltsorganisationen zur Rechtsstaatlichkeit – DAV
Auf Initiative von DAV-Präsidentin Kindermann haben über 50 Anwaltsorganisationen anlässlich der Europäischen Präsidentenkonferenz in Wien eine gemeinsame Resolution zur Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit von Justiz und Anwaltschaft in der EU angenommen. In der Resolution rufen die nationalen und internationalen Organisationen zu einem Marsch der Europäischen Roben in Brüssel Ende Juni 2020 auf. Das genaue Datum wird in Kürze feststehen. Gefordert werden Maßnahmen seitens der Kommission, um den weiteren Vollzug des richterlichen Disziplinargesetzes in Polen zu verhindern. Dieses hat konkrete Auswirkungen auch in Deutschland. Im Beschluss vom 17. Februar 2020 (Az.: 301 AR 156/19) hat das OLG Karlsruhe die Gefahr für die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren im konkreten Einzelfall bejaht und festgestellt, dass eine Auslieferung nach Polen zumindest derzeit unzulässig sei, wenn die Richter für die durch sie vorgenommene Beweiswürdigung mit disziplinarischen Sanktionen rechnen müssen.
Spanischer Rapper wird vorerst nicht ausgeliefert – EuGH
Der EuGH hat in der Rs. C-717/18 am 3. März 2020 darüber entschieden, auf welche Gesetzesfassung hinsichtlich des Höchststrafmaßes bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (EuHB) abzustellen sei. Anlass dieser Entscheidung war die Veröffentlichung von Musikstücken eines spanischen Rappers, die den Terrorismus verherrlichen, wofür er mit der gesetzlich vorgesehenen Höchststrafe von zwei Jahren bestraft worden war. Später wurde die gesetzliche Höchststrafe auf drei Jahre erhöht. Gegen den Musiker, der sich mittlerweile in Belgien befand, wurde ein EuHB erlassen. Das zuständige belgische Gericht prüfte im Rahmen des Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584, ob die Voraussetzung des Höchstmaßes einer Strafe von drei Jahren gegeben sei. Daraufhin wandte es sich an den EuGH mit der Frage, welche Gesetzesfassung des Ausstellungsmitgliedsstaates heranzuziehen sei – die Gesetzesfassung zum Zeitpunkt der Verurteilung oder der Ausstellung des EuHB. Der EuGH entschied, dass auf die Fassung des Gesetzes zum Verurteilungszeitpunkt abzustellen sei. Der Zweck der Vorschrift, die die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten erleichtern und beschleunigen soll sowie der Bezug auf eine „Verurteilung“ in Art. 2 Abs. 1 bestätigen diese Auslegungsart. Ferner würde ein Abstellen auf einen anderen Zeitpunkt der Rechtssicherheit und dem Vorhersehbarkeitscharakter zuwiderlaufen. Auch wenn keine vereinfachte Auslieferung nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses möglich sei, habe die ausstellende Behörde aber das Kriterium der beiderseitigen Strafbarkeit zu prüfen.
Die Rechtsstaatlichkeit in der EU kann man nicht aussetzen – DAV
Anlässlich der Ankündigung Griechenlands, für einen Monat keine neuen Asylgesuche mehr zu registrieren, hat der DAV in seiner Pressemitteilung 05/20 seiner Sorge Ausdruck verliehen und gefordert, rechtsstaatliche Verfahren und den Zugang zum Recht aufrechtzuerhalten. Das unionsrechtswidrige Verhalten Griechenland kann nicht gerechtfertigt werden. Die europäische Anwaltschaft versucht bereits seit einigen Jahren mit dem Projekt European Lawyers in Lesvos (ELIL), das Fehlen rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien punktuell aufzufangen. Der DAV fordert die Europäische Union angesichts der aktuellen Lage vor den griechischen Grenzen und auf den griechischen Inseln zu solidarischem und gesamteuropäischem Handeln sowie dazu auf, für die Grundrechtecharta und das europäische Asylrechtssystem einzustehen.
Buchhalter: Zusammenschluss mit anderen Berufen zulässig – EuGH
Der EuGH hat am 27. Februar 2020 (Rs. C-384/18) entschieden, dass Belgien gegen das Verbot der Beschränkungen von multidisziplinären Tätigkeiten nach der Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG und die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV verstoßen hat. Ein belgisches Gesetz hatte die gemeinschaftliche Ausübung von Buchhaltertätigkeiten auf der einen und von Tätigkeiten des Versicherungsmaklers oder -agenten, des Immobilienmaklers oder jeglicher Tätigkeit im Bank- oder Finanzdienstleistungsbereich auf der anderen Seite verboten. Zudem gestattete es den Kammern des Berufsinstituts der zugelassenen Buchhalter die gemeinschaftliche Ausübung von Buchhaltertätigkeiten auf der einen und jeglicher handwerklicher, landwirtschaftlicher oder gewerblicher Tätigkeit auf der anderen Seite zu verbieten. Die Kommission hielt dies für unionsrechtswidrig und wurde nun vom EuGH bestätigt. Der Gefahr eines Interessenkonflikts könne auf andere Weise entgegengewirkt werden. Das in der belgischen Regelung vorgesehene Verbot multidisziplinärer Tätigkeiten sei zudem nicht mit dem Verbot der Sozietät von Wirtschaftsprüfern und Rechtsanwälten vergleichbar, das Gegenstand des Urteils „Wouters“ in der Rs. C-309/99 ist, da der Beruf des Buchhalters mangels gerichtlicher Vertretung nicht mit dem des Rechtsanwalts gleichgesetzt werden könne. Zudem habe Belgien das Vorbringen der Kommission, wonach eine nachträgliche Kontrolle durch die Berufskammern die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Buchhalterberufs gewährleisten könne, nicht überzeugend in Zweifel gezogen.
Ungarn droht Niederlage im Streit um Hochschulgesetz – EuGH
Die Generalanwältin des EuGH Juliane Kokott vertritt in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache C-66/18 die Meinung, dass Ungarn mit seinem Hochschulgesetz gegen Unionsrecht verstoße. 2017 hatte Ungarn sein Hochschulgesetz dahin gehend geändert, dass eine ausländische Hochschuleinrichtung nur dann in Ungarn tätig sein darf, wenn zwischen Ungarn und dem Sitzstaat der Hochschule – sofern es ein Staat außerhalb des europäischen Wirtschaftsraumes ist – diesbezüglich ein völkerrechtlicher Vertrag besteht. Außerdem reicht es nicht, dass die Hochschule in ihrem Herkunftsstaat staatlich anerkannt ist, vielmehr muss sie dort auch tatsächlich Hochschulausbildung anbieten. Die EU-Kommission erhob im Jahr 2018 eine Vertragsverletzungsklage gegen Ungarn. Nach Ansicht der Generalanwältin verstoßen diese neuen Anforderungen gegen die Niederlassungsfreiheit, den freien Dienstleistungsverkehr, das Grundrecht auf akademische Freiheit, das Grundrecht auf Bildung, die unternehmerischen Freiheit sowie das GATS-Abkommen. Sie ist der Auffassung, dass Ungarn ausländische und inländische Hochschulen gleich behandeln müsse. Eine Hochschuleinrichtung habe keinen Einfluss auf den Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags. Damit laufe dieses Erfordernis letztlich auf einen Genehmigungsvorbehalt hinaus. Zudem werde die Freiheit der Wissenschaft unverhältnismäßig eingeschränkt. Die Schlussanträge der Generalanwältin sind für den Europäischen Gerichtshof nicht bindend, eine Entscheidung steht noch aus.
Der Kampf um die Gleichstellung der Frau geht weiter – KOM
„Eine Union der Gleichheit“ lautet der Titel der neuen Gleichstellungsstrategie für 2020-2025, welche die EU-Kommission am 5. März 2020 präsentiert hat. Die Strategie sieht zum einen noch in diesem Jahr Gesetzgebung zur Lohntransparenz und damit zum Abbau des geschlechtsspezifischen Lohngefälles vor (s. EiÜ 1/20). Hierzu führt die Kommission bis zum 28. Mai 2020 eine öffentliche Konsultation durch. Auch Gewalt gegen Frauen soll bekämpft werden, etwa durch Harmonisierung von Straftatbeständen (z.B. bei sexueller Belästigung, Missbrauch von Frauen und Genitalverstümmelung bei Frauen). Ein Gesetz über digitale Dienste soll Plattformen zu Maßnahmen im Kampf gegen illegale Aktivitäten und Gewalt gegen Frauen im Internet vorgeben. Die Kommission ruft EU-Parlament und Mitgliedsstaaten auf, den Richtlinienvorschlag zur Frauenquote in Aufsichtsräten anzunehmen, umzusetzen und anzuwenden. Diese Richtlinie wird im Rat derzeit noch von Deutschland blockiert. Die Mitgliedstaaten sollen zudem Strategien zur Erhöhung der Zahl der Frauen in Entscheidungspositionen in Politik und Politikgestaltung entwickeln und umsetzen. Sollte der Beitritt der EU zum Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt („Istanbul-Konvention“) weiter blockiert werden, kündigt die Kommission inhaltsgleiche EU-Gesetzgebung an.
Datenverarbeitung: Einwilligung setzt aktives Handeln voraus – EuGH
Wenn eine Person auf einem ansonsten standardisierten Vertrag handschriftlich erklären muss, dass sie die Einwilligung betreffend der Anfertigung und Aufbewahrung von Fotokopien ihrer Ausweispapiere verweigert, liege mangels Freiwilligkeit keine wirksame Einwilligung in die Verarbeitung personenbezogener Daten vor. Dies antwortet der Generalanwalt Maciej Szpunar in seinen Schlussanträgen in der Rs. C‑61/19 auf die Fragen des vorlegenden rumänischen Gerichts, welche Anforderungen an die Merkmale einer wirksamen Einwilligung, die Freiwilligkeit und „Kenntnis der Sachlage“ nach Art. 2 lit. h Datenschutzrichtlinie 95/46 bzw. Art. 4 Nr. 11 DSGVO zu stellen sind. Nach Ansicht des Generalanwalts sind zur Bejahung der Freiwilligkeit ein aktives Verhalten und ein hohes Maß an Autonomie der jeweiligen Person erforderlich. Weiter könne nur dann von einer Einwilligung in Kenntnis der Sachlage ausgegangen werden, wenn völlig außer Zweifel stehe, dass der Betroffene ausreichend informiert wurde. Hierfür sei nötig, dass u.a. darüber informiert wurde, für welchen Zweck die Datenerhebung erfolge und ob eine Weitergabe an Dritte möglich ist. Zu einer informierten Einwilligung gehöre aber auch das Wissen darüber, ob die Einwilligung in die Datenverarbeitung Voraussetzung für den Vertragsabschluss sei. Die Beweislast für das Vorliegen der Wirksamkeitsvoraussetzungen liege beim Verantwortlichen.
Rahmenbeschlusskonforme Auslegung bei Geldbußenvollstreckung – EuGH
Der EuGH stellte in seinem Urteil in der Rs. C‑183/18 fest, dass der Begriff „juristische Person“ im Rahmenbeschluss 2005/214/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbuße kein autonomer Begriff des Unionsrechts sei, sondern nach dem Recht des Mitgliedsstaates auszulegen ist, der die Entscheidung zur Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße erlässt. Hintergrund des Verfahrens war die Weigerung eines polnischen Gerichts, die Geldbuße mangels Rechtspersönlichkeit der Zweigniederlassung zu vollstrecken. Das vorlegende polnische Gericht hatte Zweifel über die Auslegung der Bestimmungen, mit denen der Rahmenbeschluss in polnisches Recht umgesetzt worden war. Es hielt die Umsetzung für unvollständig, da sich im polnischen Recht keine Verpflichtung nach Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses finde, die die Vollstreckung von Geldbußen gegen eine juristische Person enthalte. Der EuGH stellte fest, dass Rahmenbeschlüsse zwar keine unmittelbare Wirkung haben können, ihr zwingender Charakter für die nationalen Behörden aber eine Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung ihres innerstaatlichen Rechts zur Folge hat. Das führe dazu, dass die Mitgliedsstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, eine Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße ohne jede weitere Formalität anzuerkennen und unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Vollstreckung zu treffen, wobei die Gründe für die Ablehnung eng auszulegen sind.
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